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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille
Autoren: Jan Burke
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ist?«, fragte er beklommen.
    Wie Gillian war er groß und mager und hatte blassblaue Augen, doch seine Haare waren von einem wesentlich natürlicheren Farbton, einem dunklen Kastanienbraun. Er hatte nicht geschlafen, und seine Augen waren von Tränen gerötet, die ihm auch jetzt leicht kamen und die er nicht zu verbergen suchte.
    Er beeilte sich, mir ein paar neue Fotografien seiner Frau zu zeigen. Ihre Haare waren dunkelbraun und ihre großen Augen dunkelblau. Eine attraktive, beherrschte Frau, die selbst auf den spontansten Schnappschüssen perfekt zurechtgemacht zu sein schien. Gillian ähnelte ihr weniger als ihrem Vater, aber auf einem Gruppenbild sah ich, dass Jason Merkmale von beiden hatte – von ihr die dunklen Haare und die aristokratischen Gesichtszüge und von ihm die blassblauen Augen.
    »Welches davon ist das neueste?«, fragte ich.
    Giles wählte eine Aufnahme aus, die bei einer Jugend-Sportveranstaltung gemacht worden war.
    »Darf ich das behalten? Ich kann versuchen, es Ihnen wiederzubeschaffen, aber versprechen kann ich es nicht.«
    »Nein, schon in Ordnung, ich habe das Negativ.«
    Dieses Maß an Kooperation hielt den ganzen Tag lang an. Er begegnete meiner Einmischung mit einer Art Erleichterung und war ängstlich bemüht, alles Menschenmögliche zu tun, um mir bei meinem Artikel zu helfen. Der Nutzen war beiderseitig – ich gab ihm Gelegenheit, aktiv zu werden, und steuerte einen Teil seiner Energie, die er bisher damit vergeudet hatte, auf und ab zu gehen und sich hilflos zu fühlen. Seine Hilfe machte mir die Arbeit wesentlich leichter. Mir kam in den Sinn, dass sein Bestreben, die Sache publik zu machen, etwas war, was man bei einem Mann, der fürchten muss, betrogen worden zu sein, wohl kaum erwartet hätte.
    Also sprach ich mit Nachbarn und Freunden von Julia Sayre sowie mit anderen Verwandten. Je mehr ich über sie erfuhr, desto mehr war ich geneigt, ihrer Tochter zu glauben: Es war unwahrscheinlich, dass Julia Sayre aus eigenem Antrieb verschwunden war. Julia schien recht zufrieden mit ihrem Leben zu sein, ja, sie war offenbar mit fast allem zufrieden außer mit ihrer Beziehung zu ihrer Tochter. Die verbreitete Meinung zu diesem Thema war, dass Gillians Flegeljahre bald zu Ende gehen mussten – sämtlichen Bekannten zufolge war davon niemand überzeugter als Julia.
    Wenn sie eine außereheliche Affäre gehabt hatte, dann war Mrs. Sayre mit äußerster Diskretion vorgegangen. Ich hatte die Möglichkeit, dass sie Giles Sayre eines anderen Mannes wegen verlassen hatte, noch nicht ganz ausgeschlossen, aber es war nicht mehr meine Lieblingstheorie.
    Ich bat Gillian, mir noch einmal zu schildern, was ihre Mutter angehabt hatte. Einen Rock und eine Jacke aus schwarzer Seide, sagte sie. Eine weiße Seidenbluse, ein Paar schwarze Lederpumps und eine kleine schwarze Lederhandtasche. Ihr einziger Schmuck waren eine schlichte goldene Halskette, ein Paar Brillantohrringe und ihr Ehering gewesen.
    »Eigentlich war es gar nicht der Ehering«, erklärte Giles. »An unserem fünfzehnten Hochzeitstag haben wir uns neue Ringe machen lassen.« Er hielt seinen in die Höhe. »Ihrer ist aus Gold wie dieser hier und mit drei Rubinen besetzt.«
    Er fuhr mit mir zu dem Einkaufszentrum, wo sie zuletzt gesehen worden war. Mit seiner Hilfe brachte ich den Geschäftsführer von Nordstrom dazu, den Zeitpunkt von Julias Einkauf nachzusehen. Julia hatte um 16 Uhr 18 am vorigen Nachmittag mit einer MasterCard einen schwarzen Unterrock bezahlt. Wir dankten dem Geschäftsführer und gingen. Giles rief von seinem Handy aus beim Servicetelefon von MasterCard an, während wir im Einkaufszentrum von einem Laden zum anderen gingen und einer Verkäuferin nach der anderen ein Foto von Julia zeigten. Doch keine hatte am Tag zuvor diese Frau gesehen. Schließlich bekam Giles von der Mitarbeiterin des MasterCard-Kundenservice seine Auskunft und bat sie, diese mir gegenüber zu wiederholen. Sie bestätigte, dass Julia Sayre die Kreditkarte nach dem Einkauf bei Nordstrom nicht mehr benutzt hatte.
     
    Als Julia Sayres Mercedes auf einem der oberen Decks im Flughafen-Parkhaus von Las Piernas entdeckt wurde, glaubten die beiden Polizisten, die ihn fanden, dass die Frau doch den Entschluss gefasst hatte, aus ihrer Ehe auszubrechen. Doch dann machten die Kriminalbeamten, die dorthin gerufen wurden, eine Entdeckung – eine Entdeckung, die meinen Chefredakteur, der überglücklich war, dass wir die Konkurrenz bei dieser Story abgehängt
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