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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille
Autoren: Jan Burke
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nichts gegen meine Anwesenheit einzuwenden hatte. Während die meisten anderen mich schnitten, hatte er mich auf der Stelle ins Herz geschlossen. Das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Er war gut aussehend, intelligent und durchtrainiert. Aber andererseits konnte ihn nichts mehr begeistern, als ein Stück verwesendes Fleisch aufzuspüren.
    Er war ein Leichenhund.
    Bingle – benannt nach seiner Gewohnheit, stets mitzusummen, wenn er seinen Betreuer singen hörte – war ein drei Jahre alter, schwarzgelbbraun gefleckter, fast reinrassiger deutscher Schäferhund, darauf trainiert, menschliche Gebeine zu finden.
    Genau darum ging es nämlich bei dieser Expedition in die Berge: menschliche Gebeine zu finden. Und zwar ganz spezielle.
    Ich blickte in Bingles dunkelbraune Augen, doch in Gedanken war ich bereits bei einem blauäugigen Mädchen namens Gillian Sayre; Gillian, die die letzten vier Jahre mit Warten darauf verbracht hatte, dass irgendjemand das fand, was von ihrer Mutter noch übrig sein mochte.
    Vor vier Jahren. An einem warmen Sommertag, dem Tag, nachdem ihre Mutter nicht nach Hause gekommen war, wartete Gillian vor dem Gebäude, in dem der Express seinen Sitz hat. Ich war mit ein paar Kollegen unterwegs zum Mittagessen. Ich sah sie sofort. Sie war groß und mager, ihre Haare kurz geschnitten und auberginenfarben getönt. Ihr Gesicht war blass. Geschminkt war sie mit dunkelbraunem Lippenstift und dick auf getragenem Lidschatten, der das fast farblose Blau ihrer Augen noch betonte. Ihre Wimpern und Brauen waren dicht und schwarz gefärbt, und ihre linke Braue war von einem kleinen Silberring durchbohrt. Sieben oder acht gepiercte Ohrringe zogen sich die Kurven beider Ohrmuscheln entlang. An den bleichen, schlanken Fingern trug sie Silberringe in verschiedenen Breiten und Mustern. Ihre Fingernägel waren kurz, aber schwarz lackiert. Ihre Kleider waren zerknittert und die Schuhe klobig.
    »Ist jemand von Ihnen Reporter?«, rief sie zu uns herüber.
    Da er sich eine solche Gelegenheit nie entgehen lässt, zeigte mein Freund Stuart Angert auf mich und sagte: »Nur die Dame hier. Wir anderen haben ihr gerade ein Interview gegeben, aber jetzt hat sie Zeit, um mit Ihnen zu sprechen.«
    Die anderen lachten, und mir lagen schon die Worte »Rufen Sie an und machen Sie einen Termin aus« auf der Zunge, doch irgendetwas an ihr ließ mich zögern. Sie hatte Stuarts Witz durchaus kapiert, und ich sah ihr an, dass sie bereits mit einer Enttäuschung rechnete. Überhaupt machte sie den Eindruck, als sei sie es gewohnt, enttäuscht zu werden.
    »Geht ihr schon vor«, sagte ich zu den anderen. »Ich komme dann nach.«
    Ich ließ eine weitere Runde Spott und ein paar halbherzige Proteste über mich ergehen, doch bald stand ich alleine mit ihr da.
    »Mein Name ist Irene Kelly«, sagte ich. »Was kann ich für Sie tun?«
    »Sie wollen nicht nach meiner Mutter suchen«, antwortete sie.
    »Wer?«
    »Die Polizei. Sie glauben, sie sei davongelaufen. Ist sie aber nicht.«
    »Seit wann ist sie weg?«
    »Seit gestern Nachmittag um drei – jedenfalls habe ich sie da zum letzten Mal gesehen.« Sie wandte den Blick ab und fügte dann hinzu: »Sie ist in einen Laden gegangen. Dort hat man sie gesehen.«
    Ich nahm an, einem Mädchen gegenüberzustehen, das sich damit abfinden muss, dass seine Mutter in Sachen Familienleben das Handtuch geworfen hat. Doch als ich sie weiterreden ließ, war ich mir da nicht mehr so sicher.
    Julia Sayre war vierzig Jahre alt, und an dem Abend, an dem sie nicht nach Hause kam, hatte Gillians Vater, Giles Sayre, seine Frau um kurz vor vier angerufen, um ihr mitzuteilen, dass er zwei begehrte Karten fürs Sinfonieorchester ergattert hatte – an diesem Abend sollte das Debüt des neuen Dirigenten stattfinden. Nachdem sie ihr jüngeres Kind, den neunjährigen Jason, in Gillians Obhut gegeben hatte, verließ Julia eilig das Haus und fuhr mit ihrem Mercedes zu einem Einkaufszentrum, das keine zehn Kilometer von ihrer wohlhabenden Wohngegend entfernt lag, um einen Unterrock zu kaufen.
    Seitdem war sie nicht mehr gesehen worden.
    Als er an diesem Abend nach Hause kam und feststellte, dass seine Frau nicht wieder erschienen war, bereitete es Giles mehr Kopfzerbrechen, womöglich zu spät ins Konzert zu kommen, als sich zu fragen, wo seine Frau geblieben war. Mit der Zeit machte er sich dann aber doch Sorgen und fuhr zum Einkaufszentrum. Er suchte die Wagenreihen auf dem Parkplatz vor ihrem Lieblingsgeschäft Nordstrom
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