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Gottesstreiter

Titel: Gottesstreiter
Autoren: dtv
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ausmachen, er bemerkte nichts Auffälliges,
     keiner der durch die Gässchen schlendernden Böhmen sah wie ein Spitzel aus. Dennoch spürte Reynevan beständig jemandes Blicke
     in seinem Nacken. Es sah ganz so aus, als wäre sein Verfolger trotz der ermüdenden Routine noch nicht genügend gelangweilt.
     Na schön, ihr Schurken, dachte er, na schön, dann werde ich euch noch etwas mehr Routine liefern. So viel, dass ihr kotzen
     werdet.
    Er ging die Geißengasse entlang, in der die Buden und Werkstätten der Weißgerber eng nebeneinander standen. Ein paar Mal blieb
     er stehen und tat so, als interessierte er sich für die Waren, während er sich verstohlen umblickte. Er bemerkte niemanden,
     der aussah, als wäre er ein Spitzel. Aber er wusste, sie waren da.
    Noch vor der St.-Gallus-Kirche bog er in ein weiteres Gässchen ein. Er strebte dem Carolinum zu, der Karls-Universität, seiner
     Alma mater. Der Routine folgend, wandte er sich dorthin, mit der Absicht, einem Disput zu lauschen. Er ging gerne in die Universität
     zu Disputen und
quodlibets
. Nachdem er am Sonntag
Quasimodogeniti
, dem ersten Sonntag nach Ostern, 1426 die Kommunion in beiderlei Gestalt empfangen hatte, besuchte er regelmäßig das
lectorium ordinarium
. Als wahrer Neophyt wollte er so tief wie möglich in die Geheimnisse und komplizierten Fragen seiner neuen Religion eindringen,
     und am leichtesten gelang ihm dies durch die dogmatischen Streitgespräche, welche die Vertreter des gemäßigten und des konservativen
     Flügels, die sich um Meister Jan Přybrama scharten, mit jenen des radikalen Flügels, also Leuten aus den Kreisen von Jan Rokycana
     und Peter Payne, einem Engländer, Lollarden und |27| Wyclifiten, austrugen. Ein wahrhaftes Feuer entfachten die Dispute aber dann, wenn echte Radikale aus der Neustadt hinzukamen.
     Dann wurde es erst richtig lustig. Reynevan war Zeuge gewesen, als man den irgendein wyclifitisches Dogma verteidigenden Payne
     einen »beschissenen Englishman« genannt und mit Rüben beworfen hatte. Als man dem alten Christian von Prachatitz, dem ehrwürdigen
     Rektor der Universität, damit gedroht hatte, ihn in der Moldau zu ertränken. Als man dem grauköpfigen Peter von Mladoňovice
     eine tote Katze entgegengeschleudert hatte. Das Publikum lieferte sich regelmäßig Schlägereien, blutige Nasen und ausgeschlagene
     Zähne gab es auch draußen vor dem Carolinum, auf dem Fleischmarkt.
    Seit jenen Zeiten hatte sich aber so manches verändert. Jan Přybrama und die Leute aus seiner Umgebung waren in Korybuts Verschwörung
     verwickelt gewesen, entlarvt und mit der Vertreibung aus Prag bestraft worden. Da die Natur keine Leere verträgt, hatte man
     die Dispute fortgesetzt; nach Ostern aber waren Rokycana und Payne plötzlich zu den Gemäßigten und Konservativen übergelaufen.
     Die Neustädter gaben wie üblich die Radikalen. Und zwar verdammt hartgesottene Radikale. Auf den Disputen wurde nach wie vor
     geschlägert, mit Schimpfwörtern und mit Katzen um sich geworfen.
    »Herr.«
    Er wandte sich um. Vor ihm stand ein kleiner Mann, von Kopf bis Fuß grau. Er hatte ein graues Gesicht, ein graues Wams, eine
     graue Kappe und graue Hosen. Den einzigen lebhafteren Akzent an seiner Person setzte ein funkelnagelneuer Schlagstock aus
     hellem Holz.
    Er drehte sich erneut um, weil er hinter seinem Rücken ein Geräusch vernommen hatte. Der zweite Ganove, der ihm den Weg aus
     der Gasse abschnitt und ebenfalls einen Schlagstock trug, war ein bisschen größer und etwas bunter gekleidet. Dafür hatte
     er aber auch die verbotenere Visage.
    »Gehen wir, Herr«, sagte der Graue, ohne die Augen zu heben.
    |28| »Wohin denn? Und wozu?«
    »Leistet keinen Widerstand, Herr.«
    »Wer schickt euch?«
    »Der gnädige Herr Neplach. Gehen wir.«
     
    Wie sich herausstellte, hatten sie nicht weit zu gehen. Bis zu einem der Häuser an der Südseite des Altstädter Marktes. Reynevan
     gelang es nicht, sich genau zu merken, in welches sie gingen; die Spitzel führten ihn durch den Hintereingang, dann durch
     finstere, nach verfaulter Gerste stinkende Erdgeschosse, Höfe, Durchgänge und über Stiegen. Das Innere der Wohnung war recht
     ansehnlich – wie die Mehrzahl der Häuser in dieser Gegend war auch dieses von reichen Deutschen erbaut worden, die nach 1420
     aus Prag geflohen waren.
    Bohuchval Neplach, genannt Filou, erwartete ihn in der Stube. Unter der Sturzdecke aus hellen Balken. An einem Balken war
     ein Strick befestigt. An
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