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Gottesdienst

Titel: Gottesdienst
Autoren: M Gardiner
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eingehend, dann legte sie den Hörer auf.
    »Ich werd nachsehen.«
    Sie verschwand durch eine weitere Doppeltür in der Notaufnahme. Ich legte meinen Kopf auf Nikkis Schulter. Luke stand stumm neben mir, ich fühlte seine warmen Finger in meiner Hand. Wie in aller Welt sollte ich es ihm nur beibringen, falls Brian nicht mehr am Leben war? Plötzlich öffnete sich eine Tür und gab den Blick auf einen langen Gang frei. »Oh«, hörte ich mich selbst sagen, dann war ich auch schon auf dem Weg durch den Korridor. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Luke musste rennen, um mit mir Schritt zu halten. Kummer, Trauer, Schmerz, all das, was ich so lange zu unterdrücken versucht hatte, stieg jetzt in mir hoch. Mein Schluchzen hallte durch den gesamten Flur.
    Denn am Ende des Gangs hatte ich einen Pfleger entdeckt, der ein Krankenbett schob. Neben ihm her liefen eine Schwester, die eine Infusionsflasche justierte, und ein Arzt im blauen Kittel, der mit dem Mann im Bett sprach. Der Mann im Bett war Jesse.
    Ich schrie auf. »Warten Sie!«
    Jesse drehte den Kopf und erkannte mich. Er bat den Pfleger, anzuhalten. Im nächsten Moment warf ich mich schluchzend an Jesses Brust.
    »Wir müssen diesen Mann dringend zum Röntgen bringen«, sagte der Pfleger.
    »Warten Sie«, flüsterte Jesse. Er zog mich zu sich und küsste mich wie noch nie zuvor. In diesem Kuss steckte alles: Verlangen, Verzweiflung, Erleichterung, Liebe, alles auf einmal. Dann sah er mich an. Seine zitternden Finger streichelten meine Wangen, und seine blutunterlaufenen Augen füllten sich langsam mit Tränen. Ich hatte ihn noch nie zuvor weinen sehen.
    »Ich hab den Jeep geschrottet, als ich vom Pass runterkam«, sagte er.
    »Und Brian?« Ich blickte hilflos von ihm zum Arzt.
    »Der Mann mit der Schusswunde?«, fragte der Arzt.
    »Mein Bruder.«
    »Er wird gerade operiert.«
    Mein Herz schlug wie ein Presslufthammer, den Rest hörte ich gar nicht mehr, die Warnungen, die Floskeln, das Wir werden abwarten müssen und das Wir tun alles in unser Kraft Stehende. Brian war am Leben. Jesse war Kilometer um Kilometer über unwegsames Gelände geholpert und hatte den Highway erreicht. Er hatte sich und Brian rausgeschafft und Hilfe geholt.
    »Ich war zu schnell«, erzählte er, »hab die Kurve einfach nicht erwischt -«
    Er redete weiter mit dieser heiseren, verbrauchten Stimme, als ob die Worte seine Tränen zum Versiegen bringen könnten. Ich wusste, dass er nicht aus Reue über den Schaden an Carls Jeep weinte. Er hatte gedacht, ich sei tot. Ich streichelte sein Haar.
    »- da hock ich also auf so einer Straße mitten im Nichts. Die Front ist eingedrückt, aus dem Kühler steigt der Dampf, und dann klingelt dein Handy.«
    »Was?«
    »Dein Telefon. Ich hab nicht mal gewusst, dass es noch im Wagen liegt. Ich dachte, bei meinem Glück ist das wieder so ein Versicherungsfritze, der mir eine günstige Unfallversicherung aufschwatzen will. Aber es war diese Reporterin, Sally Shimada. Eigentlich hat sie angerufen, um einen O-Ton von dir für ihren Artikel zu bekommen, aber dann hat sie den Rettungsdienst gerufen.«
    Die Tränen liefen immer noch. Behutsam wischte ich sie ihm aus dem Gesicht.
    »Brian geht es schlecht, Ev.«
    Ich nahm seine Hand. Er drückte meine Finger, wollte noch etwas loswerden.
    »Aber er wird es schaffen, darauf wette ich. Er ist ein verdammt harter Brocken.« Er schaute mich an und dann Luke. »Genau wie alle Delaneys.«

31. Kapitel
    Das Feuer wütete tagelang. Der Himmel leuchtete rot, und die Löschflugzeuge donnerten über unsere Köpfe hinweg. Die Flammen legten ganze Häuserreihen in Schutt und Asche und überzogen die Berge mit einem schwarzen Schleier. In der Öffentlichkeit sprach man einfach vom Camino-Cielo-Brand, aber dieser Name wurde ihm nicht ansatzweise gerecht.
    Tabithas Leiche wurde unter dem Baum gefunden, der sie erschlagen hatte. Sie lag mit dem Gesicht nach oben, erzählte mir der Leichenbeschauer. Es war, als hätte sie ein letztes Mal nach dem Berggipfel gegriffen. Chenille Wyoming blieb unauffindbar. Isaiah Paxtons verkohlte Knochenreste fand man unter der Asche der Hütte, doch von einer weiteren Leiche fehlte jede Spur. Chenille war verschwunden.
    Mit ihr verschwanden auch die Standhaften. Die Kirche löste sich im Chaos auf. Shiloh und die Brueghel-Drillinge wurden in der Nähe von Reno verhaftet und der Entführung angeklagt. Curt Smollek überlebte seine Verletzungen und wurde für den Mord an Mel Kalajian belangt, weitere
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