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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag
Autoren: John Irving
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Ertüchtigung (einschließlich des Vergleichs zwischen Holzhacken und Schlittschuhlaufen), das Lasterhafte eines Mittagsschläfchens. Auf jede dieser weitschweifig vorgetragenen Ansichten des Professors antworteten seine erwachsenen Kinder (zwei verheiratete Frauen, ein verheirateter Mann) mit einer völlig ausgewogenen Mischung von:
    »Ganz genau!«
    »War es nicht immer so?«
    »Sehr richtig, Professor!«
    Diese roboterhaften Antworten wurden, mit gleicher Präzision, unterstrichen durch Moms oft wiederholtes »Bare Münze, bare Münze«.
    Homer Wells lauschte diesen gleichmäßigen Rhythmen wie ein Besucher aus einer anderen Welt, der die Trommeln eines fremden Stammes zu entschlüsseln sucht. Er kam nicht dahinter. Diese scheinbare Übereinstimmung aller in allem war überwältigend. Er sollte erst viel später erkennen, was ihm damals nicht hatte einleuchten wollen – diese unausgesprochene (und ausgesprochene) selbstbeweihräuchernde Humanitätsduselei, die Herzhaftigkeit, mit der das Leben wortreich versimpelt wurde.
    Was immer es sein mochte, es gefiel ihm nicht mehr; es wurde zum Hindernis auf dem Weg, den er suchte, der ihn zu sich selbst führen sollte – zu dem, was er war oder sein wollte. Er konnte sich an verschiedene Erntedankfeste in St. Cloud’s erinnern. Sie waren nicht so vergnügt gewesen wie das Fest bei Drapers in Waterville, aber sie erschienen ihm so viel wirklicher. Er erinnerte sich, wie er sich nützlich gefühlt hatte. Es gab immer Babys, die noch nicht allein essen konnten. Es gab immer die Möglichkeit eines Schneesturms, der das Stromnetz zusammenbrechen ließ; Homer war verantwortlich für die Kerzen und Petroleumlampen. Er war auch verantwortlich dafür, dem Küchenpersonal beim Putzen zu helfen oder Schwester Angela beim Trösten der anderen Waisen – und er war Dr. Larchs Botenjunge: das war die höchstbegehrte Verantwortung, die einem in der Knabenabteilung übertragen wurde. Bevor er zehn war, und lange bevor er von Dr. Larch ausdrücklich dazu ermahnt worden war, fühlte sich Homer Wells in St. Cloud’s von seiner Nützlichkeit durchdrungen.
    Was war los mit dem Erntedankfest bei Drapers, daß es so kraß abstach vom gleichen Ereignis in St. Cloud’s? Mom war eine unvergleichlich gute Köchin; es konnte nicht am Essen liegen – das in St. Cloud’s an einer sichtbaren, anscheinend unheilbaren Bleichsucht litt. Lag es am Sprechen des Dankgebets? In St. Cloud’s war das Dankgebet ein stumpfes Instrument – Dr. Larch war ja kein religiöser Mensch.
    »Laßt uns dankbar sein«, pflegte er zu sagen – und innezuhalten, als frage er sich eigentlich: Wofür? »Laßt uns dankbar sein für alles Gute, das wir empfangen haben«, sagte Larch mit einem vorsichtigen Blick in die Runde all der Unerwünschten und Verlassenen um ihn herum. »Laßt uns dankbar sein für Schwester Angela und für Schwester Edna«, fügte er mit mehr Festigkeit in der Stimme hinzu. »Laßt uns dankbar sein dafür, daß wir die freie Entscheidung haben, daß wir immer wieder eine zweite Chance bekommen«, fügte er einmal hinzu, Homer Wells ins Auge fassend.
    Beim Erntedankfest in St. Cloud’s war das Dankgebet ein Akt der Unwägbarkeit, der begreiflichen Vorsicht, getragen von typisch Larchscher Zurückhaltung.
    Das Dankgebet bei den Drapers war überschwenglich und wunderlich. Anscheinend hing es damit zusammen, wie der Professor die Bedeutung von »Buße« definierte. Professor Draper sagte, der Anfang echter Buße sei, daß man sich als lasterhaft erkenne. Beim Dankgebet rief der Professor aus: »Sprecht mir nach – ich bin lasterhaft, ich verabscheue mich, ich bin dankbar für jeden in meiner Familie!« So sprachen sie alle – sogar Homer, sogar Mom (die diesmal mit ihrer baren Münze zurückhielt).
    St. Cloud’s war ein nüchterner Ort, aber seine Art, das bißchen Dank zu sagen, das er zu sagen hatte, klang freimütig und aufrichtig. Homer fiel der unterschwellige Widerspruch bei der Familie Draper zum erstenmal am Erntedankfest auf. Anders als in St. Cloud’s wurde das Leben in Waterville rundum positiv begrüßt – Babys zum Beispiel waren erwünscht. Woher also diese Bußfertigkeit? War es schuldhaft, glücklich zu sein? Und wenn Larch seinen Namen (wie Homer gehört hatte) von einem Baum hatte, so hatte Gott (von dem Homer in Waterville allzu viel zu hören bekam) seinen Namen von einem sehr viel härteren Stoff: vielleicht von Berggipfeln, vielleicht von Eis. So ernüchternd Gott in
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