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Gott wuerfelt doch 1

Gott wuerfelt doch 1

Titel: Gott wuerfelt doch 1
Autoren: Lutz Kreutzer
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Zwei Psychologen der
Anstalt begegnen mir seit Jahren mit gespielter Offenheit (sie müssen es ja
sein, sonst hätten sie ihren Beruf verfehlt) - aber ich habe ihnen ihre nahezu
schleimige Fürsorglichkeit nicht abgenommen. Hier drinnen wurde mir das Menschliche
vollkommen aberkannt. Denn einen Brudermörder kann man nicht mögen oder
verstehen.
    Seit drei Wochen
jedoch ist eine Kollegin zu den beiden Psychologen gestoßen, sie heißt Martina
Semmler. Ich hoffe, sie ist nicht nur eine Urlaubsvertretung. Sie ist in
Ordnung und kümmert sich um mich. Ich bin ihr dankbar, obwohl ich nicht viel
von ihrem Metier halte. Ich schätze sie, weil sie ein guter Mensch ist. Sie ist
in meinem Alter und hat einen Draht zu mir entwickelt.
    Sie hat meine
Aufzeichnungen gelesen, wohl eher aus beruflicher Neugier. Dann haben wir über
die Liebe gesprochen, über die Liebe, wie ich sie sah und wie ich sie empfand.
Nach einer Stunde entwickelte sich aus der ersten psychologischen Sitzung ein
Zwiegespräch. Frau Semmler fragte mich, ob ich jemals daran gedacht hätte, nach
Anna Gasser zu suchen. Ich hob resigniert die Schultern und ließ ihre Frage
offen. Erstaunt fragte sie mich, warum ich das niemals getan hatte? Genauso
erstaunt antwortete ich ihr, weil ich nie die Gelegenheit und den Glauben an
ihr Leben gehabt habe. Mir sei damals irgendwie klar gemacht worden, dass sie
tot sei.
    „Sie haben nie den
Glauben an ihr Leben gehabt? So wie Sie über die Liebe reden, haben Sie nie den
Glauben an ihr Leben gehabt?“ Sie sah mich beinahe fassungslos an. „Hören Sie,
glauben Sie immer nur an harte Beweise?“
    Ich zögerte. „Ich
habe ein halbes Jahr gebraucht, um es endlich zu akzeptieren, dass sie tot
ist“, antwortete ich, und der Schmerz hallte dumpf in meiner Erinnerung.
    „Sie sind
Naturwissenschaftler. Ist das ihrer Meinung nach die einzige Möglichkeit, die
Welt zu sehen?“, fragte sie ruhig.
    Ich überlegte, wie
Sie das meinte. „Ich verstehe nicht, worauf Sie hinaus wollen“, gab ich zu.
    „Man hat Ihnen
gesagt, die Sachen Ihrer Freundin seien auf einer Felsenklippe gefunden worden,
ein Teil ihres Schuhs hatte sich inmitten der Klippe verfangen. Die Strömung
unterhalb der Felsen ist tückisch, sie hat sich nie wieder mit Ihnen in
Verbindung gesetzt. Daraus folgern Sie in logischer Konsequenz: sie ist tot! Sie
sind als Naturwissenschaftler zum Skeptizismus verpflichtet und sollten sich
fragen, ob Sie ihn richtig anwenden.“
    „Wie meinen Sie
das?“ Ich wurde etwas ruhiger. Und trotzdem kochte in mir die Neugier hoch.
    „Nun, die Indizien
sind schwerwiegend. Und daraus folgern Sie - wenn nicht der geringste Beweis da
ist, dass sie lebt - sie muss tot sein! Das ist Skeptizismus. Richtig?“
    „Ja, stimmt.“ Ich
runzelte die Stirn.
    „Sehen Sie es doch
mal so. Was ist, wenn jemand es so aussehen lassen wollte, dass sie tot wäre?
Warum betrachten Sie ihre Freundin nicht so lange als lebend, bis Sie den
Beweis für ihren Tod haben, also genau umgekehrt. Man hat ihre Leiche nie
gefunden.“
    „Ja, aber Sie hätte
sich gemeldet. Außerdem hat mich dieser Gedanke damals halb wahnsinnig gemacht.“
    Sie lehnte sich
zurück und lächelte.
    „In Ihnen
schlummert ein kleiner Narziss. Wie kommen Sie eigentlich darauf, dass sie sich
unbedingt bei Ihnen gemeldet hätte?“
    Ich war sprachlos.
    „Wenn Sie erfahren
würden, dass mein Freund einen Zwillingsbruder hat, den er um die Ecke gebracht
hat, was würden Sie von dem halten?“, fragte sie weiter.
    „Moment mal!“ Ich
protestierte. „Ich habe das nicht getan! Sie muss doch glauben, dass Konrad
mich getötet hat, so wie ich verurteilt worden bin.“
    „Ja, wenn es so ist,
wird sie erst recht nicht mit Ihnen in Kontakt treten. Aber wenn sie denkt, es
sei alles ein Schwindel, wer hat dann Konrad getötet? Wichtig ist doch nicht,
was die Wahrheit ist, sondern wie Anna Gasser die Wahrheit sieht oder noch
besser: welche Wahrheit sie erreicht oder zur Verfügung hat!“
    Einen Moment lang spürte ich Angst vor der folgenden Frage.
Doch hatte ich nichts zu verlieren, sondern ich konnte nur gewinnen.
    „Sagen Sie, glauben
Sie eigentlich an meine Unschuld?“, wollte ich wissen.
    Ich hielt ihrem
Blick stand und fragte sie schließlich noch einmal, eindringlicher: „Glauben
Sie etwa an meine Unschuld?“
    Sie setzte sich
zurück, strich ihre halblangen braunen Haare zurück und schlug ihre Beine
übereinander. „Ich bin mir nicht ganz sicher“, sagte sie und runzelte
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