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Gott wuerfelt doch 1

Gott wuerfelt doch 1

Titel: Gott wuerfelt doch 1
Autoren: Lutz Kreutzer
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anvertraute. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs schließlich, im
Frühjahr 1945, musste er als junger Arzt an die Ostfront. Der Rückzug der
deutschen Wehrmacht benötigte jede Menge Sanitäter und Mediziner, um die
zerfetzten Leiber zusammenzuflicken und sie wieder als Kanonenfutter zur
Verfügung stellen zu können.
    Das Gemetzel und
das Schlachten haben ihn wohl niemals mehr losgelassen. Das Leid, die Tränen,
die Körper, die er frei von Narkotika zerschneiden musste, und der Tod. Die
Granaten, die Einschläge rings um das Feldlazarett, die Risse in den
Zeltplanen, wenn sich ein Splitter in den notdürftig eingerichteten
Operationssaal verirrte und ein
zweites Mal auf einen Verletzten einhackte .
    Die Schreie, wenn
Beine zerrissen wurden, das Winseln bei aufgeschlitzten Bäuchen und die
Verzweiflung der Sanitäter und Ärzte, alles im Namen Deutschlands: von seinen
Herren in die Fremde geschickt, verbrannt und verraten.
    Vater kam zurück
aus dem Krieg als ein anderer Mensch. Hoffnungslos und mit einem Herzen voller
Entsetzen und Trauer machte er sich auf die Suche nach seinen Eltern, bemüht,
all das, was er gesehen hatte, hinter sich zu lassen, ohne sich darüber im
Klaren zu sein, dass die Kraft eines Mannes niemals ausreichen würde, diese
Epoche der Grausamkeit je vergessen zu können.
    Er sah seine Eltern
nie wieder. Sein Vater gelte als von der Gestapo verschleppt, seine Mutter sei
vor Kummer gestorben, erzählte man ihm. Allein auf der Welt, in einem
Deutschland in Trümmern, ging er nach Wien, so wie es viele Wissenschaftler
nach dem Rückzug der Deutschen nach Wien verschlug. Als er dem Zug entstiegen
und langsam durch die Stadt gegangen sei, habe er angesichts der Trümmer zum
ersten Mal seit langem wieder geweint.
    Der Stephansdom
aber habe - wie wunderbar in dieser Ödnis der Zerstörung - das Inferno der
entfesselten Kräfte aus Chemie und Physik überstanden. Vater meldete sich im
Allgemeinen Krankenhaus, das von der Kaiserin Maria Theresia im 18. Jahrhundert
zum Wohle des Riesenreichs Österreich gegründet worden war. Ausgezehrt und die
Müdigkeit in den Augenhöhlen, einen zerlumpten Soldatenmantel über den
Schultern, das Hakenkreuz abgerissen und mit einer von Schmutz starrenden Hose
über den geborstenen Stiefeln, stand er vor einem Arzt von Autorität, der ihn
musterte und an seinem Rangabzeichen mit der Schlange erkannte, dass auch er
Arzt war. „Wir brauchen jeden Mann! Nehmen Sie ein Bad und melden Sie sich bei
Schwester Rita. Sie wird Sie einkleiden.“
    Der Chefarzt
schilderte in warmem Tonfall aber knapp die Verzweiflung im Krankenhaus, bot
ihm Kost und ein Bett an und verlangte gute und harte Arbeit. Es gebe wenig
Medikamente und für Ärzte keine Privilegien, und Kranke seien ebenfalls genug
da.
    So lief mein Vater
meiner Mutter in die Arme. Als sie ihn zum ersten Mal erblickte, wie er geschunden
mit herabhängenden Armen und fettigen Haaren vor ihr stand, so erzählte sie mir
einmal, habe ihr am meisten an ihm gefallen, dass er in diese Trostlosigkeit
den Anflug eines Lächelns gestreut habe; diese Mundwinkel seien es gewesen, die
sie trotz des jammervollen Äußeren einen guten Mann habe erkennen lassen.
    Aus der Sicht
meines Vaters stand eine weiß geschürzte Frau, eine Gestalt wie aus Licht vor
ihm. Es war Schwester Rita. Ihre Augen seien so tief gewesen wie der Grund
eines Bergsees, eingerahmt von einem rot funkelnden Herbstwald aus Haaren, über
dem eine Haube aus gestärktem Stoff den Himmel gebildet habe. Ihr Leuchten sei
atemberaubend gewesen; er habe in diesem Moment beschlossen, sich immer in
ihrer Nähe wissen zu wollen. „Joi, Sie sehen ja aus!“ So habe sie ihn in ihrem
herzerfrischenden ungarischen Akzent begrüßt. „Sie brauchen einen Besen und
einen Kübel Schmierseife. Kommen Sie, Sie armer Tropf! Ich zeige Ihnen alles!“,
habe sie gelacht. Vater, frei erzogen und nicht prüde wie er war, hängte sich
gleich bei ihr ein und atmete einen Hauch ihres frischen Schweißes, dessen Duft
irgendwo zwischen warmem Honig und jungen Orangenblüten gelegen habe; das hat
er mal voller Heiterkeit gestanden, als beide ihren zwanzigsten Hochzeitstag
feierten und er schon das siebte Glas Moselwein verkostet hatte. Mutter
entgegnete ihm darauf lächelnd, er habe damals gestunken wie ein Mistkäfer.
    Meine Eltern
verliebten sich unsterblich ineinander. Vater war der Meinung: Warum sollte er
auf eine andere Frau warten, wenn er doch gefühlt habe, der bestmöglichen Frau
begegnet
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