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Gott wuerfelt doch 1

Gott wuerfelt doch 1

Titel: Gott wuerfelt doch 1
Autoren: Lutz Kreutzer
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Kricket-Mützen aufgesetzt. Als Vater in eine
Rechtskurve einbog, legte Mutter den linken Arm um seinen Sitz und sah mit
glücklichem Lächeln aus dem Seitenfenster. Mir schoss ganz kurz der Gedanke
durch den Kopf, ihr müsse viel zu heiß sein mit der Jacke. Also schob ich ihr
den Ärmel nach oben. Mutter schrie, zog blitzschnell den Arm ein und versuchte
seine Innenseite vor ihrer Brust zu verstecken; und auf ihrem Gesicht hatte
sich der blanke Schrecken ausgebreitet. Sie sah mich an wie ein verängstigtes
Kind. Da verfinsterte sich das Gesicht meines Vaters und er schrie mich zum
ersten Mal an: „Mach das nie wieder, hörst du?“ Er bremste ab, packte mich am
Arm und schüttelte mich: „Nie wieder, hast du gehört?“
    Ich wusste nicht,
dass sein Gesicht so böse sein konnte, schreckte zurück, verwirrt und
verängstigt, was ich falsch gemacht hatte, und dann weinte und schluckte ich.
Vater stieg aus und holte mich jetzt sanft aus dem Wagen. Wir setzten uns an
den Rand der Straße. Er nahm mich in die Arme und tröstete mich. Er
entschuldigte sich für seinen Ton, nahm mir die Mütze ab und streichelte mein
Haar. Ich hob den Kopf und sah die Feuchte, die in die Augen meines Vaters
drang.
    Mutter saß neben
uns, das Gesicht in ihren Händen verborgen. Als sie ihren Kopf hob, glänzten
matte Tränen in ihren Augen, und sie biss sich auf die Unterlippe. Sie breitete
die Arme aus, zog langsam ihren linken Ärmel hoch und zeigte mir die verblasste
Narbe, von der ich nicht wusste, was sie zu bedeuten hatte. Ich fragte leise:
„Was ist das?“ Sie fixierte mich und wisperte mit gebrochener Stimme: „Das
hier, das haben sie mir angetan. Ich habe furchtbare Angst gehabt vor ihnen.
Und eben, als du an meinem Ärmel gezogen hast, hatte ich wieder diese Angst.“
    Sie schluckte und
konnte nicht weitersprechen. Ich kroch hinüber zu ihr und wollte sie umarmen.
Sie nahm mich und hielt mich fest. Mir war damals die gesamte Tragweite ihrer
Erfahrungen nicht klar, denn als Kind denkt man anders: hungrig nach
Erlebnissen überlegt man sich nur selten, dass Erlebnisse auch ein bitteres
Ende haben können; als behütetes Kind glaubt man vielmehr an das Gute, und das
Böse hat nur den Stellenwert einer Gespenstergeschichte. Als Erwachsener aber
ist das anders: Erlebnisse bekommen zunehmend den Charakter von Lebenserfahrung
- man kann sie in keinem Falle missen, aber man will sie auch nicht wiederholen
müssen. Ich hatte an jenem Tag begriffen, dass diese Narbe am Arm meiner Mutter
etwas Schwerwiegendes war; etwas, das wie ein Fluch über ihr hing, etwas, das
sie nie würde abschütteln können, wie eine Klette, die sich in der Wolle ihrer
Seele verfilzt hatte. So nah ich meiner Mutter auch stand, so sehr ich sie
liebte, so sehr ich von ihr behütet wurde: die ganze Geschichte zu erfragen,
die sich hinter der Narbe auf ihrem Arm verbarg, traute ich mich nie.
    Es waren jedoch
nicht nur leidvolle Dinge, die mich als Kind beschäftigten. Ich spürte oft den
quirligen Drang in mir, so genannte unnütze Dinge auszuprobieren und sie so
lange zu üben, bis ich sie beherrschte. Ich spürte, dass sie mit der
Beherrschung meinerseits den Charakter der Nutzlosigkeit verloren. Damit konnte
man die meisten Leute überraschen, sie zum Lachen und zum Staunen bringen. So
trainierte ich, eine Münze um die Finger rollen zu lassen, bis sie zu tanzen
schien, und ich wackelte mit den Ohren, bis meine Haare sich bewegten. Später
blies ich Rauchringe in die Luft mit dem Ziel, die olympischen Ringe
nachzuzeichnen.
    In der Schule kam
ich gut voran. Lernen fiel mir nicht schwer. So hatte ich viel Zeit für den
Sport, wurde ein guter Schwimmer und spielte Schach. Schließlich wollte ich,
wie Vater, Wissenschaftler werden. Im Wintersemester 1980 begann ich Biologie
zu studieren und belegte außerdem einige Medizin-Vorlesungen, denn ich wollte
auch die Dinge verstehen lernen, die Vater mir erzählt hatte, wenn er von
seinem Beruf sprach (was er sehr zum Wohle unserer Familie nur tat, wenn man
ihn darum bat). Mit dem Studium hatte ich kaum Probleme, und so plätscherte
alles dahin. Wir waren Studenten, unternahmen billige, aber abenteuerliche
Reisen, fuhren zum Sporturlaub, eroberten uns die Welt und studierten. Wir
bauten Philosophien um das Nichts, und wir versuchten mit einer Flasche Wein in
der Hand das Welträtsel zu lösen. Mädchen gab es wunderbare, und ich hatte
einiges Geschick darin, sie für mich zu interessieren. Gemocht habe ich viele,
aber
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