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Gott wuerfelt doch 1

Gott wuerfelt doch 1

Titel: Gott wuerfelt doch 1
Autoren: Lutz Kreutzer
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keine war dabei, die mich dazu brachte, von Liebe sprechen zu wollen.
    Das Einzige jedoch,
das ich wirklich wollte, war herauszufinden, was in meiner Seele vorging. Wieso
glaubte ich, dass noch jemand existierte, der so war wie ich? Ich beschäftigte
mich zunehmend mit der vergleichenden modernen Zwillingsforschung, einem Zweig
der Biologie, der verblüffende Erkenntnisse gesammelt hatte. Je mehr ich mich
in dieses Thema hineinlas, desto besessener wurde ich von diesem
Forschungszweig, sie wurde zu meiner Obsession.
    Im Sommer 1983
lernte ich Anna kennen. Ihr Lachen erzeugte in mir eine Wärme, wie sie bis
dahin niemand in mir geweckt hatte. So wie Anna hatte mich noch keine im Herzen
berührt. Ihre Schultern waren kräftig und ihre Arme stark. Besonders aber
fielen mir ihre Waden ins Auge, die ich sofort geliebt hatte, als ich Anna im
Sommer in ihrem flatternden Rock und den halbhohen Schuhen zum ersten Mal sah;
der Wind spielte mit ihren Haaren, und sie blinzelte mich an. Selbst ihre Hände
waren nicht unbedingt zart, aber alles passte in einem hohen Maße zusammen.
    Sie wirkte in sich
so ruhig, so freundlich und so frei, und ihre dunklen Augen hielten so sicher
stand, als könne sie nichts auf der Welt verletzen. Ich hatte sie bei einem
fachübergreifenden Seminar kennengelernt. Sie sprach mich an, weil ich sie so
unverschämt angesehen hätte, sagte sie lächelnd.
    Einen Tag später
trafen wir uns wieder. Ich saß in der Kölner Altstadt auf dem Rand der
Hochwassersperre in der Nähe des Rheins, als sie mich begrüßte. Ihre Stimme war
wie ein Strudel, in dem ich zu versinken begann. Diese Stimme war das, was man
einen vollen Alt nennt, deutlich, selbstbewusst und von der Klangfarbe, auf die
mein Ohr geeicht schien. Schauer und Liebe erstanden vor mir, Glück und
Zuversicht, Vertrauen und Herzlichkeit. Und es sollte eine unendliche
Leidenschaft daraus erwachsen.
    Anna und ich wurden
ein Paar. Sie war einundzwanzig und ich zweiundzwanzig Jahre. Es war
eigenartig: Wohin wir kamen, lächelten uns die Menschen zu. Wir sprachen über
alles, was uns begegnete, und Anna schien genauso durstig wie ich auf schöne
Dinge, die auf der Welt waren und geschahen.
    „Was ist das Wesen
der Schönheit?“, fragte sie mich einmal. Ich überlegte lange, aber ich konnte
ihr keine Antwort geben. „Weißt du es?“, fragte ich stattdessen zurück.
    Sie hob ein wenig
unsicher die Schultern, sagte aber dann: „Ist es nicht das Erhabene und
Besondere, das herausragt aus dem Umliegenden, das Klare und Einfache, das sich
den Menschen erschließt, das Unaufdringliche und Freundliche, das uns
fasziniert, und ist es nicht auch das Kreative und Einzigartige, das die
Menschen hervorbringen? Ist Schönheit nicht all das?“
    Wir tranken den
Wein, den wir uns leisten konnten, und aßen Speisen, die wir zuvor am eigenen
Herd gemeinsam zubereitet hatten. Anna war eine exzellente Köchin; sie sagte,
weil sie der Überzeugung sei, dass das, was man tue, mit Inbrunst geschehen müsse.
Wir zelebrierten die Abende, blieben im Winter oft den ganzen Tag in der
Wohnung und ließen das Wochenende einfach an uns vorüber gleiten.
    Irgendwann - als
ich allein zuhause war - fand ich den Schlüssel eines Schließfachs im
Briefkasten in einem Briefumschlag mit meinem Namen darauf, aber ohne Absender.
Ich nahm ein Taxi und fuhr zum Hauptbahnhof. Als ich das Schließfach öffnete,
fand ich ein Flasche Barolo und eine rote Rose.
    Anna war stark und
sicher, und deshalb war ihr Geschenk für mich doppelt schön. Von ihr so etwas
zu bekommen war wie eine Flutwelle der Wonne. Ich konnte mein Glück kaum
fassen: War es möglich, dass das Liebesglück meiner Eltern sich auf mich
übertragen sollte? All die Dinge, die meine Eltern von ihrer Liebe erzählt
hatten, schienen in einer seltsamen Weise auf Anna und mich anwendbar.
    Vielleicht war es
nach dem Verlust meiner Zwillingsschwester eine glückliche Fügung des
Schicksals - nämlich meine Begegnung mit Anna -, die Mutter für ihre
Herzlichkeit belohnte. Seit Anna bei uns zuhause ein- und ausging, hatte ich
Mutter nie wieder am Grabe meiner Zwillingsschwester Cornelia weinen sehen;
nein, sie hatte seither - mehrmals habe ich sie unbemerkt beobachtet - ein
gütiges Lächeln in ihren Zügen, wo früher Tränen und Trauer waren, wenn sie die
Hände gefaltet und andächtig vor dem Grabstein gestanden und eine frische Blume
gebracht hatte.
    Jene Zeit ist
vorbei, ich habe niemanden mehr, weil ich hier in dieser Zelle
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