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Gott wuerfelt doch 1

Gott wuerfelt doch 1

Titel: Gott wuerfelt doch 1
Autoren: Lutz Kreutzer
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Anwalt hatte
ich gebeten, er möge versuchen zu erreichen, dass meine Mutter mich besuchen
könne. Sie solle Gelegenheit bekommen, sich von meiner Identität zu überzeugen.
Er hatte mir allerdings gesagt, Untersuchungs-Häftlinge dürften in keinem Fall
Zeugen des laufenden Verfahrens empfangen. Ich aber saß in verschärfter
Untersuchungshaft.
    Kurz bevor mein
Anwalt wieder ging, übergab er mir einen Brief von meinem Vater mit dem
Hinweis, das sei eigentlich illegal, denn U-Häftlinge dürften von Zeugen keine
Post erhalten. Da aber mein Vater ihn so eindringlich darum gebeten habe, habe
er ihn mitgebracht; ich solle ihn aber lesen, wenn niemand es bemerken könne.
    --
    Mein Sohn,
    Deine Mutter
liegt im Krankenhaus, sie wacht nur kurz auf und scheint völlig durcheinander
zu sein. Ich habe den Eindruck, sie weigert sich, mit der Welt noch einmal in
Kontakt zu treten. Sie ist seelisch stark angeschlagen, und ich hoffe, ihr
Verstand kehrt wieder zu uns zurück.
    --
    Ich fühlte mich zum
Zerreißen, es hätte mir das Herz gebrochen, wäre ich zu der Zeit nicht bereits
so taub in meiner Seele gewesen.
    --
    Ich würde gerne
glauben, dass Du Walter bist, Konrad kennen wir nicht. Du siehst so aus wie
Walter, und Du gehst wie Walter. Du sprichst jedoch nicht mehr so, wie Walter
zu uns gesprochen hat. Du verhältst Dich nicht mehr so, wie Walter es immer
getan hat.
    Mein Herz
zweifelt. Es sind Zweifel, die Mutter und ich nie ausräumen konnten. Schlimm
genug, dass es überhaupt möglich ist, nicht mit letzter Sicherheit sagen zu
können, ob ein Mensch der Sohn ist, den man großgezogen hat.
    Die letzte Zeit
nach Annas Tod hat sich unser Sohn stark verändert. Er war verschlossen,
grimmig, manchmal böse; Du warst uns fremd, ja unangenehm. Deine Gesellschaft
wurde manchmal zur Last. Bei uns hast Du gewohnt, weil wir uns große Sorgen
gemacht haben, nicht wissend, dass Du vielleicht ein anderer bist?
    Mutter sagte
mehrmals zu mir, manchmal habe sie den Eindruck, Du wärst gar nicht Du. Von der
Zeit früher wolltest Du ohnehin nie mit uns reden. Wir haben uns allmählich an
Dein Anderssein gewöhnt, und irgendwann war der Zeitpunkt da, wo es uns gar
nicht mehr aufgefallen ist; wir mussten schließlich damit leben, wenn Du uns
auch entrückt und entfremdet warst. Für Mutter war besonders schwer, dass Du
Dir nicht mehr helfen lassen wolltest.
    --
    Es war gut, diese
Zeilen zu lesen, weil sie ehrlich waren und beschrieben, wie es aus ihrer Sicht
gewesen ist. Nun, da ich es gerne rückgängig gemacht hätte, war es bereits viel
zu spät.
    --
    Für mich steht
fest: jeder von uns hat Geheimnisse in seiner Vergangenheit. Mutter, Du und
ich. Du hast gesehen, dass es auch über mich ein paar Dinge gibt, die ich
niemals erzählt habe. Es scheint eine Ironie des Schicksals gewesen zu sein,
dass ich, der Mengele gekannt hat, später ausgerechnet Deiner Mutter begegnen
durfte, einem Mengele-Zwilling.
    Ihre Schwester
war gestorben – durch die Hand von Mengele. Deine Mutter zählt zu den
zweitausend Überlebenden des grausamen Todesmarsches von Auschwitz nach
Mauthausen, aber sie hat die schwere Bürde ihr Leben lang mit sich getragen,
diejenige gewesen zu sein, die überleben durfte.
    --
    Wie muss sie
gelitten haben, diese großartige Frau. Nie hat sie meine Kindheit damit
belastet. Sie schien die Freude am Leben gepachtet zu haben, und doch: wie
grausam muss der Schmerz an ihrem Herz genagt haben!
    --
    Junge, es
stimmt, Verschuer wusste über Mengeles Unterlagen Bescheid. Aber es ist nicht
wahr, dass ich seine Unterlagen oder Präparate für meine Forschungen
missbraucht hätte. Bis heute weiß ich nicht einmal, was genau der Inhalt von
Mengeles Forschungen war. Die halbe Welt war und ist hinter den Unterlagen her.
Welche Rolle ich ihnen zugewiesen habe, dass ahnt nur Deine Mutter, wissen aber
tun es nur ich und Gott, und - im Namen der Liebe und der Gerechtigkeit - wenn
es ihn wirklich gibt, dann wird er mein Handeln gutheißen!
    --
    Was hatte der Mann
vor? Ich hatte meinen Vater stets für seine Offenheit und Ehrlichkeit
geschätzt. Und doch trug er also ein Geheimnis in seiner Brust. Doch in meinem
Herz spürte ich, dass er das Richtige tun würde. Dieses Urvertrauen, das jetzt
in mir wieder aufflammte, war es, das ich mit meinem Verhalten der letzten
Jahre in meinem Vater zerstört hatte. In diesem Moment spürte ich diesen Fehler
so schmerzvoll wie nie zuvor.
    --
    Ich weiß nicht
mit letzter Sicherheit, ob Du Walter bist oder
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