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Gomorrha

Gomorrha

Titel: Gomorrha
Autoren: Thomas Gifford
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ging.
    Beim Näherkommen sah er, daß das Fenster eine Art Blase war, eine kopfgroße Blase, die durch eine flache Scheibe nach innen gewölbt war, eine Blase, die einfach unwiderstehlich war. Er steckte mit großen Augen den Kopf in die Blase. Er konnte nicht erwarten, was er sehen würde.
    Und da war es:
    Die Soldaten auf seiner Bettdecke marschierten auf ihn los. Er war ein kleiner Junge, der die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen hatte und zuschaute, wie sie mit ihren Gewehren und Säbeln vorrückten. Er konnte das Peng-peng der Gewehre beinahe hören und den Pulverdampf in seinem Schlafzimmer riechen … Da war General Lee bei seinem Fuß, und dort drüben ließ General Grant seine Truppen Aufstellung nehmen … Sie rückten vor, und der kleine Junge im Bett hatte vor Begeisterung rote Bäckchen …
    Dann war er – in seinem Traum oder in der Erinnerung – kein kleiner Junge mehr. Der Lärm der Schlacht wurde schwächer. Jemand sagte etwas. Er gab sich Mühe, es zu verstehen. »Damals, als Politiker noch Soldaten waren, waren sie etwas wert. Heute taugen die verdammten Politiker nichts mehr. Sie schicken Menschen in den Tod. Sie benutzen andere Menschen, um das Töten für sie zu erledigen … Du kannst ihnen nicht mehr trauen, Sohn, sie sind nichts als Scharlatane und Volksverhetzer. Die meisten lassen die harte Arbeit von anderen erledigen …«
    Dann wurde die Stimme schwächer, auch die Soldaten verblaßten, und dann war alles weg … Hatte sein Vater zu ihm über die Jahre hinweg gesprochen? ’ Oder jemand, dem er in die Schlacht gefolgt war … Wer war es?
     
    Als der Mann sich fertig angezogen hatte, war er das Paradebeispiel eines Wissenschaftlers, die makellose Verkörperung eines Klischees: Hornbrille, glattes graubraunes Haar, das so geschnitten war, daß es den Kragen des blauen Oxfordhemdes gerade noch berührte, eine braungrün gestreifte Republikanerkrawatte. Der gestutzte Schnurrbart war ebenfalls graubraun. Er trug Hosen, die an den Knien leicht ausgebeult waren, und ein leicht verknittertes Leinenjackett. Durch das Knopfloch im Revers war ein Lederband gezogen. Eine kleine goldene Uhr steckte in der Brusttasche des Jacketts. Er trug braune genarbte Wanderschuhe und unauffällige Wollsocken. Über den Arm hatte er einen billigen, beigen Regenmantel gelegt.
    Sein Führerschein war auf den Namen Curtis Westerberg ausgestellt, Professor am Englischen Seminar der Universität Missouri. Er war siebenundvierzig Jahre alt und wohnte 311 Elm Drive, Columbia. Die Dokumente waren vom Feinsten. Niemand hätte vermutet, daß er in Wirklichkeit Thomas Bohannon war, der – wie eine Prüfung der Unterlagen in Washington ergeben hätte – vor einigen Jahren für sein Vaterland gefallen war. Die Akte im Militärregister war beinahe völlig gesäubert: keine Fingerabdrücke, keine Erwähnung der vielen Auszeichnungen, die ihm verliehen wurden, überhaupt kein Lebenslauf. Es gab höchstens zehn derartig keimfrei gemachter Dossiers in der ganzen Kartei. Sie wurden in einer Sonderkartei aufbewahrt, zu der praktisch niemand Zugang hatte.
    Er war gestern aus Chicago hergekommen. In Saints Rest war er die gefährlich steilen und engen Haarnadelkurven von der Bluff Street hinabgefahren und hatte sich in einer viktorianischen Villa eingemietet, die jetzt eine Nobelpension war. Morgen würde er wieder ausziehen.
    Am ersten Abend war er nach Fever River in Illinois gefahren und hatte sich in der Kingston Inn einen köstlichen Sauerbraten gegönnt. Am folgenden Morgen hatte er lange geschlafen, dann die glänzenden Antiquitäten und den Geruch der Zitronenpolitur und den allgegenwärtigen Duft der getrockneten Blütenblätter in Keramiktöpfen verlassen und war nach unten marschiert, um gemütlich mit dem Des Moines Register, der Chicago Tribune und USA Today zu frühstücken. Es gab wenig Nachrichten, die ihn stolz machten, ein Mitglied der menschlichen Rasse zu sein. Aber das war immer so. Sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
    Der Nachmittagsspaziergang führte ihn zu dem Laden für Zinnsoldaten in der Nähe des Platzes mit dem Uhrenturm von Saints Rest. Der Himmel war purpurn und wirkte bedrohlich. An diesem Julitag war es über dreißig Grad warm bei neunzigprozentiger Luftfeuchtigkeit. Die Luft erinnerte ihn an das Jahr, das er im Tigerkäfig verbracht hatte; zur Schau gestellt wie ein Tier, hatte er sich bemüht, die spitzen Stöcke zu ignorieren, mit denen Kinder und Frauen durch die Gitterstäbe
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