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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein
Autoren: Volker Kutscher
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man Lärm draußen auf der Straße. Lautes Rufen, Männer, die irgendetwas skandierten. Rath wunderte sich. Die Kommunisten marschierten in dieser Gegend normalerweise nicht.
    Und dann sah er, dass es keine Kommunisten waren.
    Ein ganzer Trupp SA-Leute zog draußen an den Fenstern vorbei, nicht gerade in Schlachtordnung. Die Männer brüllten irgendetwas, das Rath nicht verstehen konnte.
    »Was haben Sie vorhin gesagt«, meinte er zu Goldstein. »Eine verrückte Stadt? Ich fürchte, Sie haben recht. Immer glaubt man, schlimmer kann’s nicht mehr werden mit diesen Idioten ...« Er zeigte auf die Braunhemden draußen auf dem Trottoir. »... und dann wird’s doch noch schlimmer.«
    Wie um seine Worte zu bestätigen, klirrte es mit einem Mal ohrenbetäubend laut. Einer der Stühle von der Terrasse war von draußen durch die Fensterscheibe geflogen. Das Glas zerbarst in tausend Scherben, die nach unten regneten. Ein kalter Windzug wehte durch den Raum. Von draußen hörte man nun, was die Männer skandierten: »Wir ha-ben Hun-ger! Wir wol-len Ar-beit!«
    »Sind die von der Glaserinnung?«, fragte Goldstein noch, dann flog die Tür auf und sie kamen herein, ein halbes Dutzend Männer in SA-Uniform, kaum älter als zwanzig. Sie schauten sich angriffslustig um.
    Ein alter Mann, der nahe am Eingang saß, wurde mitsamt seinem Stuhl umgeworfen. Ein Kellner ließ vor Schreck sein Tablett fallen, es schepperte, dann war es still. Alle im Saal starrten gebannt auf die Eindringlinge. Einer der Braunhemden nahm einen Stuhl und warf ihn quer durch den Raum, die Menschen duckten sich, eine Frau wurde am Kopf getroffen und stürzte zu Boden; erschrocken hielt sie die Hände vor ihr blutendes Gesicht. Die Braunhemden lachten ein grölendes Lachen.
    »In this town the street gangs wear uniforms«, raunte Goldstein seinem Freund Sally zu. Er war aufgestanden, ebenso wie Rath und alle anderen an ihrem Tisch. Goldstein stellte sich den Männern in den braunen Uniformen in den Weg.
    »Wie wär’s«, sagte er mit lauter Stimme, und das Gegröle der Männer verstummte augenblicklich, »wenn ihr hier wieder verschwindet und eure Versicherung informiert, damit sie den Schaden wieder beheben kann?«
    Der SA-Mann, der den Stuhl geworfen hatte, ein dunkelhaariger, hagerer Kerl, der aussah wie der Lehrling eines tunesischen Teppichhändlers, baute sich vor Goldstein auf.
    »Misch dich nicht ein, Kumpel, das geht dich nichts an! Es geht hier nur gegen Juden!«
    »Und was, wenn ich zufällig einer wäre?«
    »Siehst aber nicht aus wie einer.«
    »Du siehst auch nicht gerade aus wie ein Arier. Und euer schwuler Führer schon gar nicht. Man sagt, ihr sollt alle schwul sein, stimmt das eigentlich?«
    Goldstein hatte den Schlag offensichtlich erwartet. Er fing ihn ab und donnerte dem Dünnen eine satte Rechte unters Kinn, die ihn auf die Bretter legte.
    Zwei seiner Freunde wollten dem SA-Mann zur Hilfe kommen, blieben aber abrupt stehen, als Goldstein eine Remington aus der Tasche zog.
    »Schön stehen bleiben«, rief Goldstein. »Und die Hände hoch.«
    Die beiden gehorchten, auch die drei, die weiter hinten standen. Alle fünf schauten ängstlich auf den Pistolenlauf.
    »Lassen Sie uns abhauen«, flüsterte Goldstein Rath zu, »da draußen sind noch mehr von den Kerlen, eine ganze Armee, gegen die kommen wir nicht an.«
    Rath nickte, er zog Sally Epstein und Marion Bosetzky nach hinten, während Goldstein die SA-Männer in Schach hielt.
    Sie hatten den Hinterausgang gerade erreicht, da hörten sie die nächste Scheibe klirren und zwei Schüsse krachen. Die Kerle hatten wieder losgelegt, kaum waren sie nicht mehr dem erzieherischen Mittel einer automatischen Waffe ausgesetzt. Das Interieur des Café Reimann würde nicht mehr zu retten sein. Rath hoffte, dass wenigstens die meisten Gäste mit heiler Haut davonkommen würden.
    Kaum waren sie durch ein paar Hinterhöfe auf die Knesebeckstraße gelangt, wusste er, dass diese Hoffnung enttäuscht werden würde. Auch hier war alles voller SA, dazwischen auch ein paar Kerle in der Uniform des Jung-Stahlhelms. Es mussten Hunderte sein, überall hörte man sie skandieren und grölen, ab und zu klirrte eine Fensterscheibe.
    »Deutsch-land erwa-che! Ju-da verrek-ke!«
    Rath machte sich mit Goldstein, Marion und Sally Epstein auf den Weg zum Taxistand auf dem Ku’damm. Seltsamerweise blieben sie unbehelligt. Vielleicht sah Goldstein zu arisch aus und Marion zu blond. Auf dem Kurfürstendamm spielten sich wahre
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