Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein
Autoren: Volker Kutscher
Vom Netzwerk:
nicht getan hätte.
    Und das nicht nur, weil er Abschiede hasste.
    »Nun komm schon«, sagte Charly, »sonst verpassen wir noch den Zug.«
    Das hatte sie heute schon mindestens dreiundzwanzigmal gesagt. Rath verdrehte die Augen, sie konnte es nicht sehen, nur der Mann am Schalter, der den missbilligenden Gesichtsausdruck prompt auf sich bezog.
    »Immer mit die Ruhe! Sie kommen schon noch an die Reihe.«
    Und das kam Rath schließlich auch. Nachdem der Mann eine fünfköpfige Familie mit Karten versorgt hatte.
    Er zwinkerte Charly zu und wedelte mit der Karte wie mit einem Hauptgewinn in der Lunaparklotterie, sie aber schien ihren Humor heute Morgen zuhause gelassen zu haben. Vielleicht hatte sie ihn gestern Abend auch schon in einen ihrer drei Koffer gepackt, die sie mit auf die lange Reise nahm.
    Sie strebten Gleis zwei an, wo der Zug nach Paris (über Magdeburg, Hannover, Köln und Brüssel) in knapp zwanzig Minuten abfahren sollte. Kirie zog an der Leine, als hätte sie ein Ziel, aber es war wohl nur die Aufregung, die sie antrieb. Wie immer schien der Hund mehr als die Menschen, mehr jedenfalls als Charly, zu spüren, dass hier irgendetwas nicht in Ordnung war, ganz und gar nicht in Ordnung.
    Der Potsdamer Bahnhof. Raths Schicksalsbahnhof. Hier war er angekommen in Berlin, im klirrend kalten März 1929. Hier hatte er seine wenigen Besucher empfangen und verabschiedet. Hier hatte er Beweismaterial, das niemand finden durfte, in einem Schließfach deponiert.
    Und was machte er jetzt hier? Nie zuvor hatte er sich an diesem Bahnhof so deplatziert gefühlt.
    Sie hatten den Bahnsteig betreten und waren fast bis ans Ende gegangen, wo weniger Trubel herrschte, nun standen sie dort, Charly mit ihrer Nervosität, er mit seiner Ratlosigkeit und seinem Hund.
    Sie schaute auf die Uhr. »Wo Professor Heymann nur bleibt?«
    »Der Zug fährt erst in vierzehn Minuten«, sagte Rath, der ebenfalls auf die Uhr geschaut hatte. »Er ist doch noch nicht einmal eingefahren.«
    Charly schien ihn überhaupt nicht zu hören. Sie kramte in ihrer Handtasche und suchte zum wiederholten Male nach ihrem Reisepass.
    »In der Seitentasche«, sagte Rath. »Direkt bei der Fahrkarte.«
    Rath hielt es nicht mehr aus, er wusste nicht, wie er noch eine Viertelstunde mit ihr hier stehen und warten sollte, bis ihr Professor neben ihnen stünde. Er musste sich jetzt von ihr verabschieden, jetzt, solange sie noch allein waren und so etwas wie ein persönlicher, vertrauter Abschied noch halbwegs möglich war.
    »Ich und Kirie, wir gehen jetzt besser«, sagte er. »Sollen ja nicht alle mitkriegen, dass wir ... na, du weißt schon.«
    Charly nickte, wirkte nun doch ein bisschen wehmütig. Sie beugte sich zu Kirie hinunter und wuschelte ihr über den schwarzen Kopf.
    »Na, meine Liebe, dass du mir ein bisschen auf den hier aufpasst«, sagte sie. »Gut, dass er wenigstens noch eine Frau im Haus hat.«
    Dann richtete sie sich wieder auf und schaute Rath an.
    Er konnte ihren Blick kaum ertragen. »Lass es uns kurz machen«, sagte er, »ich hasse lange Abschiede.«
    Sie nickte.
    Er nahm sie in den Arm. »Ich liebe dich«, flüsterte er ihr ins Ohr, und genau in dem Moment ertönte auf dem Bahnsteig gegenüber eine schrille Trillerpfeife. Er erschrak ein wenig über seine eigenen Worte und überlegte, ob er ihr das überhaupt schon jemals gesagt hatte; er konnte sich jedenfalls nicht erinnern. Und dann fiel ihm eine Weisheit ein, die er einmal gehört hatte: dass die Liebe verschwindet, sobald man ihren Namen nennt, dass man niemals über die Liebe reden, sie immer nur leben sollte. Er konnte sich nicht mehr erinnern, welcher intelligente Mann oder welche intelligente Frau diesen Mist von sich gegeben hatte, aber mit einem Mal hörte es sich schrecklich plausibel an.
    »Was hast du gesagt?«, fragte Charly und schaute ihn an mit ihren Augen, in denen er sich regelmäßig verlor, und die ihm jetzt seltsam fremd vorkamen. Wie ihm die ganze Situation irgendwie unwirklich erschien.
    »Ach, nichts Wichtiges«, sagte er und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Sie hatte seine Worte überhaupt nicht verstanden, vielleicht war das ja wiederum ein gutes Zeichen! »Also dann!« Er setzte ein zuversichtliches Lächeln auf. »Gute Reise. Ich ruf dich morgen an im Hotel.«
    Sie nickte, schaute ihn jedoch an, als habe sie seine Worte gar nicht gehört. »Oh, da hinten kommt Guido«, sagte sie und winkte über Raths Schulter. »Das ist aber nett.«
    Der Grinsemann? Rath
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher