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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein
Autoren: Volker Kutscher
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schaute sich um. Tatsächlich. Der auch noch! Zeit zu verschwinden, bevor auch noch ihre Freundin Greta erschien und ihr Professor.
    »Also dann.« Rath umarmte Charly, für den Bruchteil einer Sekunde so fest, als wolle er sie nie wieder loslassen, gab ihr einen Kuss, den sie aber nicht erwiderte, wahrscheinlich weil der Grinsemann schon nahte. Rath schaute ein letztes Mal in ihr Gesicht, in ihre Augen, und drehte sich dann um. Er konnte es nicht mehr ertragen.
    Nein, er konnte das nicht, er konnte doch nicht zusammen mit dem Grinsemann hier auf dem Bahnsteig stehen und Charly hinterherwinken. Und mit Greta, die ihn immer schon gehasst hatte. Das musste Charly doch einsehen!
    Er hatte sich ihren Abschied anders vorgestellt. Er wusste nicht genau wie, aber anders. Er spürte einen Kloß in seinem Hals, der immer dicker wurde.
    Er begegnete dem Grinsemann, der ihn verlegen angrinste, und grummelte etwas Grußähnliches, dann ging er weiter, den Menschenmassen in der Bahnhofshalle entgegen, er wollte sich nicht noch einmal umdrehen, er hatte Angst, irgendeine Katastrophe auszulösen, wenn er sich umdrehte, so wie Orpheus oder Frau Lot.
    Und dann, kurz nachdem er die Bahnsteigsperre passiert hatte, schaute er sich doch um, und auch wenn er nicht zur Salzsäule erstarrte und Charly auch nicht einfach so davonschwebte auf Nimmerwiedersehen, so war es doch von beidem ein bisschen. Denn er erstarrte tatsächlich für einen Moment, als er sie sah. Sie winkte ihm nicht zum Abschied, sie blickte ihm nicht einmal nach; sie unterhielt sich gerade angeregt mit dem Grinsemann, der sie freundschaftlich umarmte und ihr ein Paket reichte, ein Buch offensichtlich; Lektüre für die lange Reise. Was Gereon daran erinnerte, dass er ihr nichts dergleichen besorgt hatte. Wie auch, er hatte keine Ahnung von Büchern. Und Blumen schenkte man ja wohl nicht am Bahnhof ...
    Er konnte nicht länger mitansehen, wie Charly den Grinsemann anlächelte, und wandte sich ab.
    »Komm, Kirie«, sagte er und zog den Hund hinter sich her. Er drängte sich durch die Menschenmassen in der großen Halle am Kopfende des Bahnhofs, ohne sie richtig wahrzunehmen.
    In den ersten Wochen nach Charlys Entführung hatte er sich ihr so nah gefühlt wie all die Jahre zuvor nicht. Und gleichzeitig hatte sich schon der Schatten ihrer baldigen Trennung über alles andere gelegt. Ein halbes Jahr würde sie in Paris bleiben. Und ob sie sich in dieser Zeit überhaupt sehen würden, das war noch nicht ausgemacht. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, er wusste nur, dass er es sich anders gewünscht hätte.
    Schon jetzt, in der Bahnhofsvorhalle, vermisste er sie und überlegte, ob er nicht doch noch einmal zurückkehren sollte, um ihr zum Abschied zu winken, aber der Gedanke an den Grinsemann, an Greta und Professor Heymann und wer da sonst noch alles auftauchen mochte, ließ ihn diesen Impuls gleich wieder verwerfen. Verdammt noch mal, du Arschloch, sagte er sich, sei nicht so sentimental!
    Er fuhr zurück zum Luisenufer, spazierte mit Kirie ein wenig durch die Grünanlagen und ging dann erst hinauf in seine Wohnung, wusste aber auch hier oben nicht, was er machen sollte, nicht einmal zum Musikhören hatte er die nötige Ruhe. Er rief Gräf an, doch der war nicht zuhause. Weinert ließ sich wieder einmal entschuldigen. Seit der Journalist von seiner Zeppelinfahrt zurückgekehrt war, war er jeden Abend zu einem anderen Empfang eingeladen; Kreise, zu denen Rath niemals Zugang bekommen würde. Er fühlte sich ein wenig abgehängt. Weinerts Interesse an Polizeithemen hatte spürbar nachgelassen. Einen Moment überlegte Rath sogar, sich ein Ferngespräch zu leisten und Paul anzurufen, einfach nur, um eine vertraute, leicht Kölsch singende Stimme zu hören. Dann hielt er das aber doch für eine dumme Idee und ließ den Hörer wieder auf die Gabel sinken.
    Er setzte sich an den Küchentisch und starrte die Flasche Cognac an und die starrte zurück, doch er blieb standhaft. Keinen Tropfen! Stattdessen steckte er sich eine Zigarette an. Kirie schaute ihn mit schiefgelegtem Kopf an.
    »Tja, meine Liebe, daran müssen wir uns erst mal gewöhnen«, sagte er. »Wir sind wieder allein.«
    Das Telefon klingelte. Es war Gennat.
    »Was gibt’s denn Wichtiges.«
    »Tornow«, sagte der Buddha nur.
    »Hat er endlich geredet?«
    Seit acht Wochen lag Sebastian Tornow im Krankenhaus und hatte während der ganzen Zeit keinen einzigen Ton mit seinen Befragern gesprochen. Einmal hatte Rath es
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