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Goldrausch in Bozen - Kriminalroman

Goldrausch in Bozen - Kriminalroman

Titel: Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
Autoren: emons Verlag
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keine Blöße geben. Zunächst kam er noch
    problemlos voran. In den Wandeinstieg war eine kleine Spur gesprengt, es gab
    jede Menge Sicherungen. Doch bald kam er ohne schwindelerregende Kletterei
    nicht mehr weiter.
    Dazu diese schwüle Hitze, unter der das Land seit Tagen litt. Er
    befand sich in einer Westwand, daher war es in den Vormittagsstunden wenigstens
    noch schattig. Aber allmählich kroch die Sonne um den Berg herum und schien
    mitten in den Steig. Obschon auf über zweitausend Metern Höhe, wurde es
    unerträglich warm. Kein Lüftchen regte sich, die helle Felswand reflektierte
    das Sonnenlicht zusätzlich. Er kam sich vor wie in einem Brutofen.
    Er zwang sich, nicht mehr nach unten zu schauen, löste den ersten
    der beiden Karabinerhaken. Während er sich mit der rechten Hand krampfhaft an
    der Öse festklammerte, durch die das Drahtseil gelegt war, führte er mit der
    anderen den Haken vorsichtig an der Öse vorbei. Er konnte nur auf den
    Zehenspitzen stehen, denn die Wand bot kaum noch natürliche Tritte und Griffe.
    Endlich gelang es ihm, den Karabinerhaken wieder einzuklinken. Er wiederholte
    die Prozedur mit dem zweiten Haken. Das war das Ärgerliche. Man musste
    grundsätzlich mit zwei Karabinern gehen, weil man sonst in den Momenten, in
    denen man den Haken ausklinkte und um die Ösen im Fels führte, ungesichert war.
    Das kostete Zeit und Kraft.
    Er blieb stehen, bis sich sein Puls wieder beruhigt hatte. Dann zog
    er sich vorsichtig an dem Drahtseil entlang. Anstatt seinen Blick starr vor
    sich auf den Fels zu richten, ließ er ihn immer wieder zwanghaft dem Sog der
    Tiefe folgen. Die Neigung der Wand überschritt jetzt neunzig Grad, ein
    Überhang. Er erinnerte sich an den Moment, als er das erste Mal mit Hans vor
    einem Überhang gestanden hatte. Damals hatte er gelacht, als Hans ihm in seiner
    unnachahmlichen Art erklärte: »Ein Überhang ist ein Stück einer Route, deren
    Steilheit über das Senkrechte hinausgeht.« Jetzt lachte er nicht mehr, denn er
    konnte nicht einmal seine eigenen Füße sehen. Da war nur noch die Tiefe, wie
    ein riesiger Schlund. Ihm wurde schwindelig. Gleichzeitig überfiel ihn ein
    Brechreiz, seine Beine fühlten sich an wie Watte. Er hatte das Gefühl, im
    nächsten Moment den Halt zu verlieren. Wie sollte er jemals heil wieder nach
    Hause kommen?
    Doch da, vor ihm, ein größerer Tritt im Fels! Endlich. Dort würde er
    freihändig stehen und sich wenigstens einen Augenblick ausruhen können. Er
    hatte durch seine Touren und Bergläufe eine ausgezeichnete Kondition. Aber das
    hier war etwas völlig anderes. Diese Kombination aus Ausdauer, Kraft und
    Konzentration, das kannte er nicht. Dazu diese Hitze. Und die Angst. Er
    überwand sich weiterzugehen, ohne nach unten zu blicken, Schritt für Schritt.
    Nach einer Minute, die ihm vorkam wie eine Ewigkeit, hatte er endlich wieder
    festen Boden unter beiden Füßen. Vorläufig.
    Vincenzo Bellini war Commissario in der Questura di Bolzano und
    lange nicht mehr im Ahrntal gewesen. Bevor er nach Bozen versetzt wurde, hatte
    er in der Questura in Brixen gearbeitet. Von dort aus war das Pustertal mit
    seinen Nebentälern schnell erreichbar, aber seit er in Sarnthein bei Bozen
    lebte, hatte er sich vor allem die Dolomiten und die Sarntaler Alpen
    erschlossen. Doch heute war er mal wieder im Ahrntal, weil er mit Hans in der
    Hütte unterhalb des Schwarzensteins verabredet war – und dafür musste er erst
    diese vermaledeite Felswand hinter sich bringen.
    Zurück konnte er auf keinen Fall. Wenn er schon fast nicht
    hinaufkam, dann ging hinunter erst recht nicht. Und vor ihm lag, wie er erst
    jetzt entsetzt bemerkte, eine weitere, fast glatte Wand, noch etwas stärker
    überhängend. Durch sie war ein Drahtseil gelegt. Für die Füße gab es in
    beängstigend großen Abständen Eisenstifte, die in den Fels gerammt waren,
    natürliche Tritte und Griffe fehlten völlig. Erneut stieg Panik in ihm auf.
    Wäre wenigstens Hans hier!
    Als Hans mit ihm das Begehen ausgesetzter Klettersteige geübt hatte,
    war es ihm viel leichter gefallen. Das lag an Hans’ Fähigkeiten als Bergführer
    und seiner natürlichen Art. Er strahlte Ruhe und Souveränität aus, und trotz
    seiner Erfolge und seines physischen Leistungsvermögens war er ein
    zugänglicher, einfühlsamer Mensch geblieben. Niemals sprach er verächtlich über
    Leute, die ihre Grenzen schon bei einem Spaziergang auf dem von vielen
    Bergbahnen erschlossenen Kronplatz erreichten.
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