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Göttertrank

Göttertrank

Titel: Göttertrank
Autoren: Andrea Schacht
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eisernen Gestänge. Am liebsten hätte Alexander sich die Ohren zugehalten, aber schon schubste ihn wieder jemand an, und er folgte einem der Jungen, um zu lernen, wie man die Garnrollen austauschte. Er musste sich die Handgriffe vom Zusehen aneignen, eine andere Verständigung war bei dem Getöse in der Fabrikhalle nicht möglich.
    Als um zwölf die Glocke zur Pause läutete, war Alexander halb taub, und in seinen Ohren klingelte es. Zusammen mit den anderen Arbeiterinnen und Arbeitern schleppte er sich in den Aufenthaltsraum und packte das grobe Brot aus, das Jenny ihm dünn mit Schmalz bestrichen hatte. Hungrig war er nach dem Verzehr noch immer, aber mehr noch übermannte ihn die Müdigkeit. Wie alle anderen auch versank er in einen unruhigen, kurzen Schlummer, aus dem ihn unbarmherzig die Glocke weckte. Fünf weitere Stunden in der tobenden, feuchtwarmen, staubigen Hölle standen ihm bevor.
    Vollkommen erschöpft wankte er neben Wally am Abend durch den aufsteigenden Nebel nach Hause.
    »Ich halte das nicht aus«, murmelte er, als Jenny einen Teller Suppe vor ihn stellte.
    »Dann gibt’s auch nix zu fressen.«
    »Kann ich nicht etwas anderes machen?«
    Die Alternativen, die ihm auf eindeutige Art aufgezeigt wurden, erschienen Alexander nicht erwägenswert, und so stand er am nächsten Morgen schlaftrunken auf, um einen neuen Tag in der Hölle zu verbringen.
     
    Nach zwei Wochen hatte er sich einigermaßen an den eintönigen Tagesablauf gewöhnt und sich einen stumpfen Gleichmut zugelegt. Er aß, was er kriegen konnte, schlief, wann immer er Gelegenheit dazu fand, tat, was man ihm auftrug. Manchmal sehnte er sich nach den Pferdeställen zurück, nach dem Geruch von Stroh und Heu und warmen Tieren. Doch meistens wünschte er sich nur, aus der Fabrikhalle ins Freie zu entkommen. Dann wanderte er zu den Docks, wo die Fernsegler lagen, und atmete den rauchigen, feuchten Themsedunst ein, der ihm gegen die staubige, ölstinkende Fabrik und der nach menschlichen Ausdünstungen und faulendem Kohl riechenden Hinterhofwohnung geradezu elysisch vorkam.
    Als es Winter wurde, musste er diese Ausflüge einstellen, es fehlte ihm an warmer Kleidung. Was den nun Zwölfjährigen zu einigen Überlegungen veranlasste.
    Bisher hatte er den Lohn seiner Gastfamilie abgeliefert, wie sie sagten, als Miete und Kostgeld. Das musste anders werden. In den wenigen Monaten in London hatte er erkannt, wie hart es war zu überleben. Geradezu verwöhnt worden war er die beiden Jahre im Dienst von Captain Finley, gestand er sich jetzt ein. Er hatte diese Zeit zwar in einem geregelten, von militärischer Disziplin geprägten Tagesablauf verbracht, aber immerhin sorgte man für tägliche Mahlzeiten und zweimal im Jahr für neue Kleider. Nun aber war er auf sich selbst gestellt. Sein Verdienst reichte nicht, um sich eine eigene Unterkunft zu suchen, also musste er zumindest den Winter über bei Wallys Familie bleiben. Er brauchte mehr Geld, wenn er von ihnen loskommen wollte. Das war die ganz einfache Konsequenz. Geld bekam man durch Arbeit oder auf unlautere Weise.
    Alexander hatte Taschendiebe bei der Arbeit gesehen. Er hatte auch gesehen, wie sie bestraft wurden. Das kam nicht infrage. Die Arbeit an den Docks wurde besser bezahlt als die Fabrikarbeit, hieß es. Aber auch wenn er ein hoch aufgeschossener, zäher Junge war, dem Lastenschleppen war er noch nicht gewachsen. Jenny und ihre Mutter gingen nicht in die Fabrik, sondern arbeiteten zu Hause, was ihn zunächst gewundert hatte. Aber die Erklärung dafür erhielt er, als er einmal das Mädchen ohne Haube gesehen hatte. Ihr fehlte die Hälfte der Kopfhaut – ein Unfall an einer Bandflechtmaschine, bei der ihre Haare in das Getriebe geraten waren, war die Ursache. Seither traute sie sich nicht mehr außer Haus. Sie nähte grobe Hemden für einen Armeelieferanten. Doch erstens konnte Alexander nicht nähen, und zweitens war der Lohn auch nicht höher. Wally, zwei Jahre älter als er, bekam, seit er im Maschinenhaus Kohle schippte, ein paar Pennys mehr. Aber dort ließen sie ihn noch nicht arbeiten. Er hielt also weiter die Augen offen und fand in den nächsten Tagen wirklich eine weitere Verdienstmöglichkeit. Es bedeutete zwar, dass er noch zwei Stunden länger in der Fabrik bleiben musste, aber wenigstens schwiegen die Maschinen in dieser Zeit.
    Der Vorarbeiter war einverstanden, als er darum bat, die unbeliebte Tätigkeit des Maschinenschmierens übernehmen zu dürfen, und so lernte er in
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