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Göttertrank

Göttertrank

Titel: Göttertrank
Autoren: Andrea Schacht
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man ängstliches Geflüster. Doch niemand bewegte sich von seinem Platz, um den Verwundeten zu helfen. Der Ingenieur kam in die Halle gepoltert, gefolgt von dem Fabrikanten.
    »Was ist hier los?«, fragte der aufgebracht in die Menge. »Warum wurden die Maschinen gestoppt?«
    Alexander rappelte sich auf, und da kein anderer gewillt war, Auskunft zu geben, erklärte er: »Der Riemen ist gerissen, Sir«, und wies auf die leere Antriebsscheibe.
    »Verdammt, Harvest, was ist das für eine beschissene Konstruktion«, fauchte der Fabrikant den Ingenieur an. Die Verletzten ignorierte auch er.
    »Das liegt nicht an der Maschine, sondern an der Wartung.« Er schaute auf den blutenden, besinnungslosen Vorarbeiter.
    Alexander folgte seinem Blick und begann zu würgen. Plötzlich war die Erinnerung an das Grauen auf dem Schlachtfeld wieder da. Ihm wurde schwindelig, und seine Beine wollten nachgeben. Das Mädchen neben ihm fing an zu plärren: »Der hat mich zu Boden gestoßen!« und zerrte an seiner Jacke. Da riss sich die junge Frau neben ihm zusammen und sagte mit heiserer Stimme: »Der Junge hat ihm gesagt, er geht kaputt. Hat er. Heut Mittag. Und mir und Meg, der blöden Gans, hat er das Leben gerettet.«
    Der Ingenieur betrachtete den blassen Alexander mit gewissem Interesse.
    »Wie heißt du, Junge?«
    »Alexander Masters, Sir.«
    »Stimmt das, was die Frau sagt?«
    »Ja, Sir.«
    »Er hat ihm’ne Ohrfeige dafür verpasst, der Idiot von Vorarbeiter«, mischte sich die Frau wieder ein.
    »Wir unterhalten uns noch, Masters. Geh rüber ins Maschinenhaus und warte dort auf mich.«
    »Wie Sie wünschen, Sir.«
    Noch etwas wackelig von dem Schock stolperte Alexander vorbei an den beiden Verwundeten, doch er war heilfroh, dem Anblick zu entkommen.
     
    Thornton Harvest war besessen von technischen Konstruktionen und mechanischen Abläufen. Er war Ingenieur mit Leib und Seele, die Menschen interessierten ihn gewöhnlich selten. Er war außerdem ein eingefleischter Junggeselle von knapp vierzig Jahren, von gepflegtem britischem Stoizismus und, obwohl er gut verdiente, ein unprätentiöser Mensch. Das Einzige, was er wirklich hasste, war, wenn aus Schlampigkeit etwas schiefging.
    Alexander hatte seine Aufmerksamkeit geweckt, und in dem nachfolgenden Gespräch fand er heraus, dass der Junge seine Leidenschaft teilte. Tatsächlich überraschte ihn das profunde Verständnis, das er, wenn auch nicht mit dem richtigen technischen Vokabular ausgedrückt, von den Arbeitsvorgängen in der Fabrik hatte. In einer spontanen Anwandlung, die ihn selbst überraschte, bot Harvest ihm nach einer halben Stunde eingehender Befragung an, ihn zu seinem Assistenten auszubilden.
    »Versteh mich richtig, Masters. Bezahlen kann ich dir nicht viel mehr als das, was du hier bekommst. Aber ich biete dir eine eigene Kammer, drei Mahlzeiten täglich und – mhm – notwendigerweise wohl auch eine Garnitur sauberer Kleider.«
    Lange brauchte Alexander wirklich nicht zu überlegen. Das war seine Chance, dem stinkenden Hinterhof zu entkommen, Wallys ewig nörgelnder Familie, der Hölle der Fabrikhalle und dem ewigen Hunger.
    »Sir, gerne. Ich kann arbeiten, Sir. Was immer Sie wollen.«
    »Gut. Ich regle das mit dem Chef. Du holst deine Habseligkeiten, und um fünf treffen wir uns am Fabriktor.«
    In der Wohnung fand Alexander den Skipper vor. Der einarmige Veteran konnte nur einfache Arbeiten verrichten, aber die beiden Frauen saßen schweigend am Fenster und nähten. Ohne große Erklärungen packte Alexander seine wenigen Sachen in ein Tuch und schnürte es zu einem Bündel zusammen. Dann kramte er ein paar Münzen hervor und legte sie auf den Tisch.
    »Ich zieh zu Mister Harvest. Der ist der Ingenieur.«
    »Ach, jetzt wird Mister Masters was Besseres, hä?«, giftete Jenny, und ihr Vater schnaubte. »Wird sich’nen wunden Arsch holen. Aber manche mögen das ja.«
    Alexander sparte sich eine Antwort. Was der Einarmige damit gemeint hatte, war ihm in den vergangenen Monaten auf unangenehmste Weise deutlich gezeigt worden. Es war die Ursache dafür, dass seine freundschaftliche Beziehung zu Wally bis zum Gefrierpunkt abgekühlt war. Ein Grund mehr, der Enge der Strohmatratze am Küchenherd zu entfliehen.
     
    Es begann für ihn tatsächlich eine bessere Zeit, auch wenn ihn die ersten Nächte wieder furchtbare Albträume plagten, in denen er über blutende Leichen auf einem Schlachtfeld steigen musste. Er wusste, er musste unbedingt jemanden erreichen, musste ihn
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