Goetheruh
abermals zu tun. Es sind lauter Brandraketen!‹.«
»Das hat er gesagt?«
»Ja.«
»Und die Brandraketen sind …?«
»Eine Menge Dinge, die die damalige Gesellschaft erregt haben. Er erhob die Liebe zu Lotte in eine religiöse Dimension, benutzte Worte wie göttlich oder Engel, was für die Kirche damals an Blasphemie grenzte. Er griff den Adel an, der in Regeln und Konventionen erstarrte und für Emotionen und Individualismus keinen Raum ließ. Und er rüttelte das Bürgertum auf, sich aus seiner Resignation zu erheben. Drei gefährliche Brandraketen.«
»Stimmt.«
»Und er erhob den Suizid gewissermaßen … in einen mystischen Status«, ergänzte Benno.
Bernstedt bewegte abwägend den Kopf hin und her.
Sophie strich sich ihre dunklen Haare hinter das Ohr. »Vielleicht musste er aber zu solch drastischen Beispielen greifen, um überhaupt Gehör zu finden und etwas zu bewirken.«
»Interessante Theorie«, antwortete ich nachdenklich, »auf jeden Fall war es Goethes Ziel, nach Vorbild des römischen Dichters Catull, die Individualität gegen die Anpassung an zeitgenössische Strömungen zu verteidigen. Dazu benutzte er eine geänderte Sprache mit einer sogenannten radikalen Emotionalität, die auch zur Überwindung von gesellschaftlichen Zwängen und Schablonen dienen sollte. Und die Verdammung des Suizids war und ist auch heute immer noch eine gesellschaftliche Schablone.«
»Das hat sich jetzt ein bisschen angehört wie ein Teil deiner Vorlesung«, meinte Benno lakonisch.
»Oh, tut mir leid.« Ich hatte das Gefühl, etwas rot zu werden.
»Ist ja nicht schlimm«, beschwichtigte er, »aber ich weiß nicht, ob solche Zusammenhänge nicht eher Interpretationskonstrukte von euch Literaturforschern sind.«
Cindy sah ihn an. »In diesem Fall glaube ich nicht, man kann nämlich lesen, dass unser Goethe, kurz bevor er den Werther schrieb, die Schriften von diesem Catull studiert hat. Und der Kerl hatte ähnliche Theorien.«
Ich nickte anerkennend.
»Gibt es eigentlich Werke von anderen Dichtern, in denen der Selbstmord als Lösung von persönlichen Problemen propagiert wurde?«, fragte Bernstedt.
»Ja, es gab durchaus welche«, antwortete ich, »zum Beispiel ›Emilia Galotti‹ von Lessing. Dort ging es um eine Frau, die den Suizid als einzige moralische Rettung betrachtete. Auch sonst taucht dieses Thema als Ehrenrettungstat in vielen anderen Kulturen auf, insbesondere als Harakiri in Japan. Insofern ist das Thema keine Erfindung von Goethe. Es passte aber irgendwie in die Stimmung der damaligen Zeit.«
»›Emilia Galotti‹ soll einen erheblichen Einfluss auf den Werther gehabt haben, oder?«
»Ja«, antwortete Sophie, »angeblich soll ein Exemplar auf dem Pult des realen Werther-Vorbilds … wie hieß der noch?«
»Carl Wilhelm Jerusalem«, half ich ihr aus.
»Genau, auf seinem Schreibtisch soll es gelegen haben, als er sich umbrachte. Behauptete zumindest der, der ihn fand.«
»Außerdem ist es besser, sich selbst umzubringen als irgendeinen anderen Menschen«, sagte Felix Gensing.
»Was meinst du damit?«
»Na, an einer Stelle erzählt Werther doch von einem Bauernburschen, dem dasselbe widerfuhr wie ihm, dieser Liebeskummer und so. Der aber hat in seiner Not seinen Rivalen getötet!«
»Guter Punkt«, entgegnete ich beeindruckt. Thomas kam mit neuen Getränken. Wir diskutierten noch eine ganze Weile über mögliche Gründe für einen Selbstmord, ob dieser einen Einfluss auf die Hinterbliebenen ausübte und inwiefern Krankheiten einen Selbstmord induzieren konnten.
»Könnt ihr euch vorstellen«, fragte ich, »dass ein Mensch wirklich solche seelischen Qualen erleidet, dass diese wie Symptome einer körperlichen Krankheit wirken und er daran stirbt?«
»Wieso fragst du das?«
»Weil Goethe Werther diese Begründung für seinen Suizid in den Mund legt, ich glaube, in einem Gespräch mit Albert.«
»Ja, ich denke, das ist möglich.« Sophie machte ein ernstes Gesicht. »Ihr müsst nur mal auf unsere Intensivstation kommen und sehen, wie schädlich sich fehlender seelischer Beistand auf die Genesung auswirkt.«
»Ja, schon«, entgegnete Bernstedt, »aber seelischer Kummer als alleinige Todesursache?«
»Das halte ich durchaus für möglich. Es gibt extreme Fälle von psychosomatischen Erkrankungen. Die Gürtelrose ist ein gutes Beispiel. Die hat weitgehend psychische Ursachen und führt zu starken Schmerzen.«
»Au ja, das hatte ich auch mal, tat höllisch weh!«, meinte Felix Gensing
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