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Goetheruh

Goetheruh

Titel: Goetheruh
Autoren: Bernd Koestering
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ist denen sowieso alles egal!«
    »Das kann schon sein«, warf ich ein, »wäre aber sehr unklug, denn den Welterbetitel kann man auch wieder verlieren.«
    »Tatsächlich?« Scherer schien überrascht.
    »Na ja«, beschwichtigte ich, »das kommt sehr selten vor, bisher soweit ich weiß erst einmal, aber ich würde trotzdem vorsichtig sein.«
    »Kann ich das so schreiben?«
    »Ich halte es für klüger, vorher mit Stadtrat Kessler darüber zu sprechen.«
    »Gut, mache ich«, versicherte Sandro Scherer.
    Hermann warf mir einen skeptischen Blick zu. Wir wussten beide, dass der Journalist das wohl nicht tun würde.
    »War das alles, was ich wissen muss?«, fragte Scherer nach.
    Ich lächelte. »Wer weiß schon wirklich, wann er genug weiß?«
    »Wohl wahr. Faust, die Frage nach der absoluten Erkenntnis!«, konstatierte er.
    So dumm schien dieser Scherer doch nicht zu sein. Jede Branche hat ihre eigenen Gesetze.
    »Damit schlage ich mich täglich herum«, fügte er lakonisch an.
    »Warum das?«, fragte ich.
    »Nun, bei jeder Recherche, bei jedem selbst verfassten Artikel frage ich mich, wie weit ich gehen muss, um die Wahrheit zu finden. Die absolute Wahrheit, sozusagen die absolute Erkenntnis.«
    So hatte ich Journalismus noch nie betrachtet.
    »Nun, ich hoffe, Sie versuchen es nicht mit Magie«, sagte ich lächelnd.
    »Nein, nein, bestimmt nicht. Dann halte ich es eher mit Ihrer Version …«
    Ich hob die Augenbrauen.
    »Dort, wo die Erkenntnis des Menschen aufhört, fängt die Religion an.«
    Ich war beeindruckt. »Wir sollten jetzt langsam Schluss machen«, sagte ich vorsichtig, »ich bin nämlich … mit einem Freund verabredet.«
    Hermann wusste, wen ich meinte.
    »Eine letzte Frage«, warf Scherer hastig ein, »hat man sonst noch irgendetwas bei Jens Gensings Leiche gefunden?«
    »Was meinen Sie?«, fragte ich ungeduldig. Mein Freund wartete. Außerdem musste ich mich um den Studienplatz für den jungen Mann mit den grünen Haaren kümmern. Und schließlich gab es da noch eine Frau, die auf mich wartete.
    »Na ja, einen Abschiedsbrief vielleicht – oder so etwas in der Art?«, erklärte Scherer.
    Ohne zu antworten hielt ich eine Kopie des Papiers hoch, das Jens Gensing bei seinem Tod in der Hand gehalten hatte. Sandro Scherer nahm das Blatt vorsichtig in die Hand und begann vorzulesen:

     

     

     
    Absturz
    Meine Füße sind reglos,
    wollen festen Boden spüren unter sich,
    stehen im Nichts, stürzen ab.

     
    Mein Kopf will denken,
    kämpft angestrengt und dreht sich,
    erliegt der Dummheit, stürzt ab.

     
    Mein Herz ist gespalten,
    blutet und weint bitterlich um sich,
    zerfällt in zwei Hälften, stürzt ab.

     
    Bald wird der Sand der Zeit sie begraben,
    die Reste meines Ichs,
    und niemand mehr der Verzweiflung gedenken,
    die dort verstreut liegt.

     
    Das war seine Wahrheit, die Wahrheit des Jens Werner Gensing. Diese Wahrheit, von der ich bisher annahm, sie sei eindeutig und unbestechlich, von der ich dachte, sie sei immun gegen jegliche schizophrene Angriffe.

     

     
    E N D E

     
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