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Gnadenthal

Gnadenthal

Titel: Gnadenthal
Autoren: Hiltrud Leenders , Michael Bay , Artur Leenders
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ein Bündel Karotten aus dem Gemüsekorb und fing an, es zu putzen. Schon vor Jahren hatte sie es sich angewöhnt, das Essen für den nächsten Tag so weit wie möglich am Vorabend zuzubereiten, denn für größere Kochaktionen war ihre Mittagspause zu kurz. Rüdiger vertrug abends keine üppige Mahlzeit, er konnte dann nicht schlafen und verfiel ins Grübeln. Also hatten sie sich darauf geeinigt, sich mittags, wenn auch oft nur für eine halbe Stunde, zu Hause zu einem warmen Essen zusammenzusetzen, in Ruhe und Frieden, Stress hatten sie schließlich beide genug in ihrem Job.
    Gestern allerdings hatte sie die Sache gründlich vermasselt. Sie war nach einem unerquicklichen Gespräch mit absolut unerträglichen Eltern erst auf den letzten Drücker aus der Beratungsstelle gekommen, und zu Hause hatte die halbe Küche unter Wasser gestanden. Zum dritten Mal schon in diesem Jahr war aus unerfindlichen Gründen die Hauptsicherung herausgesprungen. Der alte Tiefkühlschrank, den sie beim Einzug übernommen hatten, war abgetaut, und alle Mahlzeiten, die sie an den letzten Wochenenden vorgekocht und eingefroren hatte, waren im Müll gelandet.
    Nachdem sie aufgewischt, Rüdiger vergeblich am Sicherungskasten gewerkelt und schließlich einen Elektriker angerufen hatte und sie beide mit langen Zähnen den kalten Zucchiniauflauf gegessen hatten, war es mit ihr durchgegangen. «Ich halt’s hier nicht mehr aus!» Ihr waren tatsächlich die Tränen gekommen.
    Rüdiger hatte sie nur kurz gemustert. «Das Haus könnte längst saniert sein, das weißt du so gut wie ich. Pump endlich deine Mutter an. Die hockt doch auf einem Geldberg.»
    «Den braucht sie auch, wenn sie ins Heim muss. Und das kann jeden Tag so weit sein. Ihre Rente reicht nicht.»
    «Dann pfleg du sie doch!» Den Satz hatte er quer über den Tisch gespuckt.
    Sie hatte erschrocken geschwiegen, hilflos. Seit Jahren kämpfte sie mit ihrem Gewissen, denn ihr war klar, dass sie sich als einziges Kind um ihre Mutter zu kümmern hatte, aber sie wusste auch, was ihr blühte, wenn Rüdiger und ihre Mutter länger als ein oder zwei Tage unter einem Dach verbrachten. Viel schlimmer noch aber war die Vorstellung, ihren Job aufgeben zu müssen, den Beruf, den sie liebte, der sie ausfüllte. Sie schob die Möhrenscheiben beiseite und fing an, eine Zwiebel zu schneiden. Die Neonröhre über dem Spülbecken summte.
    Dann pfleg du sie doch? Rüdiger wusste genau, was der Beruf ihr bedeutete, schließlich arbeiteten sie seit fast zwanzig Jahren in derselben Einrichtung, schließlich war es das, worüber sie sprachen.
    Sie hörte ihn hereinkommen. «Ist noch Bier da?»
    «Im Kühlschrank.» Sie drehte sich nicht um, packte die Zwiebelschalen und Möhrenabfälle sorgsam in die Zeitung ein.
    «Tut mir Leid, Dagi, ich wollte dich nicht so anfahren.»
    «Schon gut.»
    Er hatte sich beharrlich nach oben gearbeitet und war seit zwei Jahren Leiter der Beratungsstelle, ihr Chef. Sicher war er stolz darauf, aber sie ahnte, obwohl sie nie darüber redeten, wie schwer es ihm oft fiel, Entscheidungen zu treffen, die allem, wofür er einmal gestanden hatte, zuwider liefen.
    Als er ihr jetzt die Hand auf die Schulter legte, presste sie ihre Wange dagegen. «Hast du Ärger?»
    «Nein, Herrgott!» Dann versöhnlich: «Du siehst ganz verfroren aus. Leg dich doch in die Badewanne.»
    «Später vielleicht. Bringst du das hier für mich in den Grünmüll?» Sie drückte ihm das durchweichte Zeitungspäckchen in die Hand. «Ich muss mich an meine Sketche setzen.» Dann hielt sie inne. «Sag mal, verstehst du das mit Frieder? Wieso setzt er sich ausgerechnet jetzt ab? Das hat er noch nie gemacht.»
    Rüdiger grinste breit.
    «Jetzt erzähl schon! Schließlich hat er dich doch angerufen. Er muss doch was gesagt haben.»
    Er zog übertrieben die Schultern hoch und legte das Abfallpäckchen auf den Tisch. «Was Genaues weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, dass es dringend war und dass es irgendwas mit seinem Herzliebchen zu tun hat.»
    «Mit Patricia?»
    «Eben der.»
    Dagmar zuckte die Achseln. «Mir auch egal. Ich habe übrigens vorhin mit Martin telefoniert. Er, Kai und ich müssen uns möglichst bald abstimmen. Wir wollen uns am Wochenende zusammensetzen.»
    Rüdigers Grinsen verblasste. «Aber auf gar keinen Fall bei uns! Ich habe die ganze Woche wahrhaftig genug am Hals, da habe ich keine Lust, am Wochenende auch noch den Gastgeber zu spielen.»
    Sie sagte nichts, bückte sich nur, um einen Kochtopf aus
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