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Gnadenthal

Gnadenthal

Titel: Gnadenthal
Autoren: Hiltrud Leenders , Michael Bay , Artur Leenders
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Freundeskreis aufgebaut, Freunde, die ihm auch nach der Scheidung geblieben waren.
    Es war Zeit, den Ofen vorzuheizen. Während er darauf wartete, dass die richtige Temperatur erreicht war, deckte er den Tisch. Schließlich goss er noch etwas Olivenöl ans Fleisch, schob den Bräter in den Ofen und stellte die Zeitschaltuhr ein. Dann ging er zum Schreibtisch zurück und nahm sich die Fotos der ersten beiden Jahre vor: 1973 und 1974 in der Mensa, zuerst in kleinen Gruppen, diskutierend, sehr ernsthaft, wichtig, dann größere Runden, zusammengeschobene Tische. Die Mädchen alle mit Mittelscheitel und glatten, langen Haaren oder viel zu krausen Dauerwellen. Nur Johanna sah anders aus, sie trug auch keine Plateauschuhe, keine weiten Kittel über ausgestellten Jeans. Sie hatte alles selbst genäht, handbemalte, bestickte, mit Perlen und anderem Schnickschnack besetzte merkwürdige Gewänder.
    Und die Jungs fast alle ohne Haarschnitt, zottelig. Er selbst hatte einen flusigen Vollbart gehabt, schauderhaft, Vollbart und Kassenbrille. Und einen Bundeswehrparka, den er augenscheinlich nur selten abgelegt hatte, auf den frühen Fotografien war er jedenfalls überall dabei. Schwarzweißfotos selbstverständlich, Farbe war etwas für Mutti und Vati gewesen, für die Urlaube an der Nordsee oder an der Costa Brava.
    Aufnahmen von den Proben für ihren ersten Auftritt auf der Bühne im Audimax. Wer war eigentlich auf die Idee gekommen, für die Weihnachtsfete der Germanisten ein Kabarettprogramm auf die Beine zu stellen? Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Sie hatten herumgeblödelt, der harte Kern, und auf einmal waren die ersten Sketche fertig gewesen. Dann hatte jeder von ihnen Freunde und Bekannte mitgebracht, bis sie schließlich mit Musiker, Techniker und den anderen guten Geistern dreizehn gewesen waren. «Die Wilde Dreizehn, das wär’s doch!» Er hatte Dagmars Stimme noch gut im Ohr. «Ihr wisst schon, die Piraten aus ‹Jim Knopf›.» Die ersten Proben. Wie fremd sie einander gewesen waren, wie linkisch sie auf der Bühne herumhampelten, alle eigentlich bis auf Frieder, Frieder und Kai, die waren vom ersten Moment an in ihrem Element gewesen.
    Die ersten Sketche: Willy Brandts Rücktritt, die Ölkrise, der Militärputsch in Chile, die Straßenschlachten der ersten Hausbesetzer mit der Polizei in Frankfurt – wie hatten sie sich einen abgebrochen mit dem hessischen Dialekt! Baader-Meinhof natürlich, der Hungerstreik. Meine Güte, was für Rundumschläge sie damals verteilt hatten! Dennoch, es waren gute Sachen dabei gewesen. Einen von seinen eigenen Sketchen vom 74er-Programm hatte er für den Bestof-Teil des Jubiläumsprogramms rausgesucht. Mal schauen, ob er den durchsetzen konnte.
    Als politisches Kabarett waren sie angetreten, und es wurde Zeit, dass sie sich darauf zurückbesannen. In den letzten Programmen hatte sich mehr und mehr Comedy breit gemacht, was an Frieder und seinem Gefolge lag. Bei den Diskussionen um die Auswahl der Texte hatte immer einer von denen das basisdemokratische Schwert geschwungen, und so hatte billiger Klamauk jedes Jahr mehr Raum bekommen. Abgesehen davon, dass er diesen geistigen Dünnpfiff verabscheute, fand er es unanständig, dem Publikum, das ihnen über viele Jahre die Treue gehalten hatte, so etwas vorzusetzen. Es mochte, wie er selbst auch, älter und leiser geworden sein, aber es stand immer noch links, war immer noch kritisch und geistig beweglich und erwartete – zu Recht – etwas zum Nachdenken und Nachfühlen.
     
    «Puh, ich platze gleich!» Dagmar schob den Teller weg. «Es war absolut köstlich, Martin.»
    Haferkamp lächelte und drückte ihre Hand. Mit dem hellroten Haar, der sommersprossigen Haut und den blassen Wimpern war sie alles andere als eine Schönheit, aber er hatte sich gleich bei ihrer ersten Begegnung in ihre warmen Augen und ihr Lachen verliebt. In der Mensa war das gewesen, ihm war der Pudding vom Tablett gerutscht und auf ihrem Fuß gelandet. Sie hatten sich auf Anhieb verstanden und waren unzertrennlich geworden. Dass sie damals schon mit Rüdiger zusammen gewesen war, hatte keine Rolle gespielt. ‹Mein kleiner dicker Ritter›, hatte sie ihn genannt, sie war sein ‹Faun› gewesen. Heute kamen sie ohne die kindischen Neckereien aus, aber sie waren sich immer noch nahe, auf eine angenehm unkomplizierte Weise.
    «Dann mach ich uns mal einen Espresso, okay?»
    «Für mich lieber einen Milchkaffee, wenn’s geht.» Kai stand auf und
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