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Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)

Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)

Titel: Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
Autoren: Lisa Unger
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trat in die kühle Herbstluft hinaus. Sie blieb kurz stehen, um noch einmal einen Blick auf das gedrungene Backsteingebäude mit den olivgrünen Türen zu werfen, dann lief sie über die Seiteneinfahrt zur Straße hinunter und verschwand.
    Sie hatte damit gerechnet, dass ihr jemand folgen und sie fragen würde, wohin sie wolle. Aber nichts passierte. Und so lief sie die stille, zweispurige, von flüsternden Ulmen gesäumte Straße entlang. Eine nervöse, aufgekratzte Freude über die erschlichene Freiheit erfüllte sie, als sie auf dem Seitenstreifen dahintrabte. In einer Kleinstadt wie dieser war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand vorbeifuhr, sie entdeckte und sich wunderte, warum ein Teenager mitten an einem Schultag allein unterwegs war. Er würde die Schule benachrichtigen, und dann würde sie großen Ärger bekommen. Ihre Mutter würde sich furchtbar aufregen. Aber das war Willow egal. Sie wollte einfach nur … weg. Immer schon.
    Sie hatte keinen Plan und wünschte sich, sie wäre nicht ohne Jacke unterwegs. Eine steife Brise fuhr in die Baumkronen und rüttelte die goldgelben Blätter von den Bäumen, die im Wind tanzten und schließlich zu Boden fielen, um von Willows schweren, schwarzen Stiefeln zertreten zu werden.
    Von ihrem alten Leben trennten sie ein Jahr und ein Tag und Hunderttausende von Kilometern. Sie könnte ihre alten Freundinnen anrufen. Einige hatten ihr den Umzug verziehen, sie riefen immer noch an und schrieben Mails und Kommentare auf Willows Facebook-Seite. Aber wozu? Wann immer sie mit ihnen telefonierte, ihre Statusmeldungen und albernen SMS las, wurde ihr klar, dass sie im Exil lebte. Und es gab keinen Weg zurück, auch wenn alle inklusive Willow so taten, als wäre es anders.
    Früher, als sie klein war, hatte ihre Mom ihr oft aus einem bestimmten Buch vorgelesen. Es ging um einen kleinen Jungen, der nach einem Streit mit seinen Eltern davonlief, um sich dem Zirkus anzuschließen. Er steckte seinen Kopf dem Löwen ins Maul und spazierte über das Hochseil. Er flog am Trapez über die Köpfe der Zuschauer hinweg und tanzte mit den Clowns. Aber am Abend, als die Vorstellung vorbei und alle Zuschauer nach Hause gegangen waren, fand er sich mutterseelenallein in seinem kleinen, dunklen Zelt wieder. Er schloss die Augen und weinte, weil seine Mutter nicht da war, die, wie sich herausstellte, gar kein so schlechter Mensch war. Sie hatte lediglich gewollt, dass er seinen Brokkoli aß. Als er die Augen wieder aufschlug, hatte er alles nur geträumt und lag daheim in seinem Bett. Seine Mom beugte sich gerade vor, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu drücken.
    »Ich bin weggelaufen und war beim Zirkus«, sagte er zu ihr. Er erzählte ihr von den Löwen und den Clowns und dem Trapez. »Und trotzdem wollte ich nirgendwo lieber sein als zu Hause.«
    »Du bist überall zu Hause, denn ich bin immer bei dir«, sagte die Mom im Buch. »Du kannst hinausgehen in die Welt und tun, was du willst, und dann kannst du immer zu mir zurückkommen.«
    Willow wusste noch, wie sehr sie das Buch geliebt und wie sie sich abends an ihre Mom geschmiegt hatte. Selbst heute, als ihr das Buch längst albern und kitschig vorkam, gefiel ihr die Vorstellung, man könnte sich am Ende eines Tages ins Bett kuscheln und sich geliebt und geborgen fühlen. Früher hatte sie wirklich geglaubt, es ginge so zu im Leben. Die Welt war gut, und es gab nichts, was ihre Mutter nicht geradebiegen konnte.
    Als sie ein Auto hörte, verließ sie die Straße und schlug sich ins Gebüsch. Durch die spärlich belaubten Äste fiel das Licht in langen, schmalen Streifen auf den feuchten Waldboden. Die Erde unter ihren Schuhsohlen war ein weiches Kissen aus Laub und Zweigen. In der Luft hing der schwere Duft verfaulter Pflanzen. Willow kämpfte sich durchs Unterholz. Es war ohnehin besser abseits der Straße. Wenn sie für ein oder zwei Kilometer geradeaus lief, würde sie auf die Schotterstraße stoßen, die nach Hause führte. Sie war den Weg schon öfter gegangen, auch wenn sie ihrer Mutter das Gegenteil versprochen hatte. Einmal hatte sie sich hier draußen mit Jolie Marsh zum Kiffen getroffen. Jolie war das einzige halbwegs coole Mädchen, das sie bislang in The Hollows kennengelernt hatte. Leider war Jolie wegen Schulschwänzens vom Unterricht ausgeschlossen worden, und Willows Mom wollte nicht mehr, dass sie sich mit Jolie traf.
    Nur eins störte Willow an The Hollows nicht: die Stille. Nie zuvor war ihr aufgefallen, wie laut es in der
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