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Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)

Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)

Titel: Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
Autoren: Lisa Unger
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tatsächlich tiefblaue Augen. Er war auf eine sportliche, gepflegte, gebügelte, frisierte, frisch verheiratete, saubere Art attraktiv. Willow war kein bisschen verschossen in ihn, sie konnte ihn einfach nur gut leiden. Die meisten Lehrer fanden sie »unkonzentriert«, »anstrengend«, »intelligent, aber faul« und »schwer zu motivieren«. Ebenso viele Adjektive wie Elternabende, von denen die meisten unangenehm für Willow ausgingen.
    Nur Mr. Vance war anders. Er ließ sie ausreden und ärgerte sich nicht über ihre endlosen Fragen: Gab es Hinweise, dass Shakespeare eine Frau gewesen war? Hatte nicht seine Schwester für ihn geschrieben, und er hatte die Lorbeeren geerntet? War sie die Einzige, die Hemingway oberflächlich und unzugänglich fand? Und Moby Dick sterbenslangweilig? Beim letzten Elterabend hatte Mr. Vance zu ihrer Mutter gesagt, er halte Willow für begabt, aber sie langweile sich schnell. Sie benötige »größere Herausforderungen, um sich zu Höchstleistungen anzuspornen.« Er war der erste Lehrer, mit dem sie tatsächlich etwas anfangen konnte, aber nun hatte sie es sich mit ihm verdorben. Sie hatte alles versaut. Scheiße. Ihre Mutter konnte es nicht leiden, wenn sie »Scheiße« sagte. Benutze deinen Verstand, Willow. Schimpfwörter sind etwas für Leute mit begrenztem Vokabular.
    »Genau, Willow«, sagte Mr. Vance, drehte sich um und ging zur Tafel. »Sehr gut.«
    Er fuhr mit seinem Vortrag über rhetorische Figuren fort, aber Willow hörte nicht zu. Den Rest der Stunde schmollte sie. Normalerweise lungerte sie nach dem Pausengong noch in der Klasse herum, um sich mit ihm zu unterhalten, aber heute war er verschwunden, noch bevor sie ihr Heft eingepackt hatte. Das vertraute Gefühl, das Falsche gesagt und jemanden verprellt zu haben, beschlich sie, ebenso wie eine bittere Enttäuschung und der vergebliche Wunsch, sie hätte auf ihr loses Mundwerk geachtet.
    Jemand hatte das Wort Freak in den olivgrünen Lack ihres Schulspindes geritzt. Es war gleich zu Anfang des Schuljahres passiert, aber sie hatte sich nicht beschwert oder versucht, das Wort abzudecken. Sie mochte es. The Hollows war ein soziales und kulturelles Vakuum, in dem sich nur fantasielose Kleingeister wohlfühlen konnten; hier eine Außenseiterin zu sein, erfüllte Willow mit Stolz. Sollten die anderen ruhig merken, dass sie etwas Besonderes war. In New York, wo sie bis zu dem Umzug vor sechs Monaten gelebt hatte, hätte sie niemand als Freak bezeichnet.
    Sie wühlte in ihrem Rucksack, bis sie ihr Handy gefunden hatte. Sie wählte eine Nummer, klemmte sich das Gerät ans Ohr und bückte sich, um ihre Doc Martens zu binden und sich die Netzstrumpfhose gerade zu zupfen.
    »Wie ist das Leben auf der Überholspur, Kleines?«, fragte ihre Mutter.
    »Zum Kotzen.« Willow ließ sich gegen ihren Spind sinken und beobachtete den Strom aus Deppen, der sich durch den Korridor wälzte. Lautes Kichern und Rufen und Poltern, das Quietschen von Turnschuhsohlen.
    Ihre Mutter seufzte.
    »Was ist denn nun schon wieder los?«
    Willow schilderte den Vorfall mit Mr. Vance.
    »Ich habe nur Spaß gemacht!«
    »Tja. Was tut man, wenn man jemanden verletzt oder beschämt hat?«
    »Man macht es wieder gut«, sagte Willow zerknirscht. Warum hatte sie ihre Mom überhaupt angerufen? Sie hätte das Gespräch wortgetreu voraussagen können.
    »Klingt, als wüsstest du, was zu tun ist.«
    »Klar«, sagte Willow.
    Sie drehte sich zum Spind um. Sie wollte ihre Mom bitten, sie abzuholen. Während der ersten Wochen hatte sie das ständig getan, und ihre Mutter hatte immer nachgegeben. Aber eines Tages hatte sie sich geweigert. Willow sollte den Schultag durchstehen, egal, wie sie sich dabei fühlte.
    »Ich habe dich lieb, Mom.«
    »Ich habe dich auch lieb. Und noch etwas, Willow. Ich weiß ja, dass es im Moment nicht leicht für dich ist. Aber es wird besser, das verspreche ich dir. Versuch einfach, das Glück im Kleinen zu entdecken.«
    »Ich werd’s versuchen.«
    »Musst du jetzt zum Kunstunterricht?«
    »Ja.«
    »Das wird bestimmt toll!«
    Willow konnte es nicht leiden, wenn ihre Mutter so aufgesetzt fröhlich klang. Es erinnerte sie daran, dass ihre Mutter es im Moment auch nicht leicht hatte.
    »Juhu«, sagte sie.
    »Ja ja, du Schlaukopf«, sagte ihre Mutter lachend. »Reiß dich zusammen.«
    Nach dem Telefonat verstaute Willow ihre Bücher im Spind, holte ihre Malsachen heraus und knallte die Tür zu.
    »Hübscher Rucksack.« Eine gehässige Stimme hallte
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