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Glückskind (German Edition)

Glückskind (German Edition)

Titel: Glückskind (German Edition)
Autoren: Steven Uhly
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ist?«
    Der richtige Name – wie ein Echo wiederholt sich das in Hans’ Kopf. »Chiara«, sagt er tonlos.
    Herr Wenzel sagt: »Stimmt, jetzt erinnere ich mich wieder.«
    Frau Tarsi reißt die Augen auf und sagt: »Dann werden wir sie ab heute Chiara nennen! Das wird uns allen helfen.«
    Hans nickt träge, er fühlt sich auf eine Art und Weise erschöpft, die er schon seit einer Ewigkeit nicht mehr empfunden hat. Wie damals, als seine Familie plötzlich fort war und er abstürzte wie ein Ballon, aus dem man die Luft entweichen lässt.
    Doch im selben Augenblick fühlt er wieder die Leichtigkeit. Es ist, als hätten beide Gefühle dieselbe Wurzel, als hätte er es sich nur verboten, die schöne Seite zu fühlen. Als entstünde die Lähmung allein aus dem Verbot heraus. Als wäre er nur deshalb so lange in die Tiefe gestürzt, weil er sich untersagte, erleichtert zu sein, als seine Familie fort war. Nicht, weil er sie nicht liebte. Er hat seine Kinder immer geliebt und er hat nie aufgehört, Karin zu lieben. Sondern weil die Liebe zu ihnen ihm die Möglichkeit nahm, sich selbst zu finden. Weil die Liebe sein Mittel war, nicht auf sich selbst zu schauen. Weil er die Liebe benutzte, nicht wahrnehmen zu müssen, dass er sich selbst nicht liebte. Er atmet tief durch. Er sagt: »Ja, es ist das Beste für Chiara. Und wer weiß, was noch alles geschieht.«
    Frau Tarsi schaut ihn fragend an, aber er sagt nichts mehr.
    Später nimmt er Chiara mit hinüber in seine Wohnung und legt sie in sein Bett. Sie wird zwei- bis dreimal wach werden in dieser Nacht, deshalb bereitet er die üblichen Flaschen vor und stellt heißes Wasser in einer Thermoskanne bereit. Dann setzt er sich ins Wohnzimmer und schaut die Nachrichten. Er hat noch Bier im Kühlschrank, das holt er sich her und trinkt es in langen Zügen. Als es schon spät ist, begibt er sich ins Badezimmer, putzt sich die Zähne, wäscht sich Gesicht und Hände, schaut sich im Spiegel an. Lange steht er da und schaut sich an. »Was bist du für ein Mensch?«, fragt er sein Spiegelbild. Aber das Spiegelbild antwortet nicht, es gibt die Frage lautlos zurück. Hans löscht das Licht und geht durch den Flur zu seinem Schlafzimmer. Er legt sich neben Chiara. Er küsst sie auf die Stirn, auf die Backe. Er weint und hört wieder auf zu weinen. Er schläft ein.
    Am nächsten Tag kommt ein Brief aus der Justizvollzugsanstalt. Hans ist gleich morgens hinuntergegangen, Frau Tarsi muss bei Chiara bleiben. Als er zurückkommt und sie auf den Arm nimmt, zeigt er Frau Tarsi wortlos den Brief. Er ist ohne Ansprache und ohne Text. Nur ein Name, eine Adresse und eine Telefonnummer stehen dort.
    Frau Tarsi blickt auf, aber Hans weicht ihrem Blick aus. Er stellt sich mit Chiara ans Fenster und sie schauen hinaus. Wieder hatte er etwas anderes erwartet, wieder ist er enttäuscht. Und wieder muss er versuchen, Veronika Kelber zu verstehen. Er denkt: Du darfst es nicht persönlich nehmen, Hans. Sie kann einfach niemandem etwas geben, auch dir nicht.
    Frau Tarsi stellt sich zu ihnen ans Fenster. Zu dritt schauen sie hinaus. Die Sonne führt einen Kampf gegen dunkle Wolkenfelder, sie wird diesen Kampf verlieren, das sieht man. Aber das, denkt Hans, ist eine Frage der Perspektive. In Wahrheit scheint sie ja weiter, in Wahrheit wollen wir nur, dass die Sonne immer scheint, und glauben, sie höre damit auf, sobald wir sie nicht sehen.
    Frau Tarsi fragt: »Was werden Sie jetzt tun?«
    »Ich werde ihn anrufen. Jetzt gleich. Kann ich Ihr Telefon benutzen?«
    Frau Tarsi nickt, sie schluckt, sie wendet sich vom Fenster ab und geht voraus, Hans folgt ihr. Als sie in der Wohnung sind, setzen sich die Tarsis zu ihm, während er die Nummer wählt. Herr Tarsi hat Tee gekocht, den hat er in türkische Gläser gegossen und stellt jedem eines hin. Sie sitzen in der Küche. Hans hat die Nummer gewählt. Der Rufton setzt ein. Sie warten.
    Dann gibt es ein klickendes Geräusch und eine Männerstimme sagt: »Leo Kelber hier.«
    Hans räuspert sich. Er weiß nicht, wie er anfangen soll.
    Die Stimme klingt roh und unfreundlich. Sie sagt: »Hallo? Wer ist da?«
    Hans will etwas sagen, aber er kann nicht. Ratlos schaut er Frau Tarsi an. Frau Tarsi schaut stumm zurück, sie ist so ratlos wie Hans. Herr Tarsi drückt auf die Gabel und beendet das Gespräch. Er sagt: »Wir fahren hin!«
    Hans nickt. Das ist eine gute Idee, findet er. Sie nehmen alles mit, was sie brauchen, Hans muss noch einmal in seine Wohnung, um Sachen für
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