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Glockengeläut

Glockengeläut

Titel: Glockengeläut
Autoren: Robert Aickman
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sich ab, vergrub sich in seine Bücher oder erging sich, so darf man vermuten, in Träumereien, verzichtete jedenfalls auf den Besuch der namhaften akademischen Kaderschmieden (in denen Vater und Großvater zur Lebenstüchtigkeit gehärtet worden waren) und führte statt dessen über Jahre, finanziell freilich immer abhängig vom ungeliebten Vater, als nur formell eingeschriebener Architekturstudent ein Bohème-Leben, das nach zahlreichen Affären in einer Heirat endete, durch die Aickman zum Teilhaber einer literarischen Agentur wurde. Daneben widmete er sich als Kritiker dem Theater und der Oper und begründete ferner die »London Opera Society«. Dann erwachte, aus welchem Grund auch immer, sein Interesse für das System der englischen Kanäle, die im Zuge der frühen Industrialisierung als Transportwege sei es für Kohle, sei es für Wolle angelegt wurden, ein halbes oder ein ganzes Jahrhundert später jedoch - durch modernere Transportwege und -mittel überholt - verschlammten und verfielen. 1946 erlaubte eine Erbschaft Aickman die Gründung der »Inland Waterways Association«, die sich dem skizzierten Niedergang entgegenstellte. In seiner ersten Publikation überhaupt, einer Art Reiseführer, betitelt »Know Your Waterways« (1955), erweist sich Aickman als Fürsprecher jenes übersehenen industriellen Erbes.
    In den fünfziger Jahren gelangte Aickman dann zur Literatur, zur ghost story - nicht nur als Autor, sondern ab 1964 auch als Herausgeber. Mit kritischem Sachverstand edierte er bis 1972 die ersten acht Bände der »Fontana Books of Great Ghost Stories«. Die Vorworte, mit denen er diese Anthologien einleitete, enthalten - zusammengenommen - den Ansatz zu einer Poetik dieser spezifisch englischen Literaturgattung, naturgemäß gefärbt von den persönlichen Auffassungen des Herausgebers.

    Den Begriff der ghost story, der Gespenstergeschichte, nehmen weder die Sammlungen noch die einleitenden Essays wörtlich. Sie konzentrieren sich zwar stets auf ein unheimliches Phänomen, doch keineswegs immer auf ein ›Gespenst‹.
    Aickman zeigt sich in seinen Ausführungen als radikaler Kulturkritiker. Der modernen Industriegesellschaft attestiert er unaufhaltsamen Werteverfall, Zerstörung all dessen, was das Leben lebenswert macht, schließlich des Lebens selbst. Wissenschaftlicher Positivismus und Fortschrittsutopie stürzen den Menschen, so Aickman, in eine entzauberte Welt der Daten und Fakten, in die Entfremdung: »Jede wissenschaftliche Antwort wirft mehr Zweifel auf, als vor der Fragestellung überhaupt existiert haben, hinterläßt den Fragenden nackter und frierender als je zuvor. So wird die Wissenschaft letztlich das Ende der Welt bewirken (...). Daß die Wissenschaft den Menschen nicht glücklicher gemacht hat, begründet sich hauptsächlich darin, daß sie die falschen Fragen stellt und dann unvollständige Antworten gibt.«
    Mit Freud und Jung vertritt Aickman die Auffassung, daß nicht die Vernunft uns wesentlich bestimmt, dem Menschen vielmehr nur ein kleiner Teil, vielleicht ein Zehntel seiner geistigen und emotionalen Struktur bewußt ist. »Diese Entdeckung beantworten wir vor allem damit, daß wir die restlichen neun Zehntel vollständiger und systematischer von uns weisen denn je.«
    Kunst und Religion, die unbewußte Triebkräfte einst in geheimnisvollen Bildern Gestalt gewinnen ließen, erfüllen die alte Aufgabe nicht mehr: »Die Kunst reflektiert die Entfremdung einerseits und ist kommerzialisierte Mode andererseits. Die Religion beschäftigt sich mehr und mehr mit Ethik und Politik. Die Liebe ist rationalisiert und domestiziert.« So versagt das Diktat der Vernunft den Tiefenschichten der psychischen Hierarchie jedwede Ausdrucksmöglichkeit, doch entfacht solcherart Verdrängung letztlich Gegenwehr. In Gestalt der Neurose macht sich das Unbewußte bemerkbar, drängen alte Erinnerungen und triebhafte Wünsche als zerstörerische Kräfte ins Ich zurück: Aus dem schwarzen Seelengrund steigen die dunklen Bilder des Traums auf.
    In diesem Kontext gewinnt die ghost story, so wie Robert Aickman sie versteht, eine ähnliche Funktion wie die Psychoanalyse: Sie vermag Verdrängtes aus den Tiefen der Seele ins Bewußtsein zu heben: »Die ghost story gewährt uns, wie Dr. Freud, Zugang zu den vergessenen neun Zehnteln« und zeigt uns Gegebenheiten unseres Innern, von denen die Vernunft nichts wissen will: »Gespenster sind die zurückgekehrten Toten, die wir einmal gekannt haben. Sie sind Dinge in
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