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Glasklar

Glasklar

Titel: Glasklar
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Ansicht nach geringe Verantwortungsbewusstsein ›der Kapitalisten‹ gegenüber dem ›werktätigen Volk‹, wie sie sich ausdrückte. Dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, um solche Themen zu diskutieren, dafür schien ihr das Gespür zu fehlen. Angelika würdigte sie keines Blickes, sondern lächelte nur Werner zu und griff wieder zu ihrer Gitarre.
    Georg, der Journalist, sprang auf, ohne seinen Bierkrug loszulassen: »O ja, spiel noch was.« Er überlegte. »›Wenn die Sonne erwacht in den Bergen‹«, schlug er vor und erntete Zustimmung all der anderen, die bisher den Gesprächen wortlos gefolgt waren. Jedes dieser Lieder, das sie sangen, war mit ganz persönlichen Erinnerungen verknüpft. So, wie es auch die Schlager waren, zu denen sie während ihrer frühen Jugendzeit getanzt hatten, damals in den ersten Diskotheken, die hier in der Provinz eine Sensation waren. Den ›Today-Club‹ in Geislingen hatten sie alle noch in lebhafter Erinnerung – oder das ›Pflugfelder‹ in Göppingen. Mein Gott, wie war die Zeit schnell vergangen.
    »Leute, ich glaub, wir werden älter, wir reden nur noch von gestern«, durchbrach Erich das Schweigen, das sich eingestellt hatte, noch ehe Angelika das Lied anstimmen konnte. »Ich hab mich jedenfalls furchtbar geärgert, wenn meine Eltern immer von früher gesprochen haben«, fuhr er fort und sah übers Feuer hinweg zu Katrin, deren Gesicht die lodernden Flammen in ein rötliches Licht hüllten. »Ich hasse es, von der Vergangenheit zu reden«, bemerkte sie mit monotoner Stimme, als fühle sie sich angesprochen. Ihr Blick war auf die Glut gerichtet.
    »Erich hat recht«, meinte Joachim. »Ich kann mich noch lebhaft erinnern, wie meine Eltern über die Beatles gewettert haben. Lange Haare und Gammler und so. Und dann diese schreckliche Musik!«
    »Na ja«, erwiderte Georg, »im Vergleich zu dem, was heute in den Hitparaden drin ist – man sagt ja jetzt wohl ›Charts‹ –, war das noch melodiöse Musik.«
    Angelika hatte die Gitarre an sich genommen und suchte eine Gelegenheit, die Gespräche zu unterbrechen. Werner ließ sich aber nicht davon abbringen, eine Bemerkung zu machen: »Ich finde auch, wir sollten nicht in der Vergangenheit rumstochern, sondern uns um die Probleme kümmern, die uns alle heute beschäftigen.«
    »Komm jetzt bitte nicht mit deiner Eisenbahn daher«, fuhr ihm Georg unwirsch über den Mund und nahm wieder einen Schluck aus seinem Krug. Jeder wusste, was gemeint war: Werner schien ein erbitterter Gegner der Schnellbahntrasse zu sein, die in den nächsten Jahren Stuttgart mit Ulm verbinden sollte. ›Stuttgart 21‹, so nannte man das Projekt, das auch die Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs vorsah. Im Tunnel sollte die Trasse aus dem Talkessel heraus bis hinauf zu der Hochfläche der Fildern führen, wo der Flughafen und die sogenannte Neue Messe ans internationale Eisenbahnnetz angeschlossen sein würden. Ab da ging’s entlang der Autobahn bis zu der natürlichen Barriere der Schwäbischen Alb, die den Planern aufgrund ihrer Topografie und ihrer sensiblen Landschaft einiges Kopfzerbrechen bereitet hatte. Doch inzwischen waren die rechtlichen Hürden überwunden und das Projekt allenfalls noch durch die Finanzierung gefährdet. Auch Werner hatte dies zur Kenntnis nehmen müssen, doch wollten er und die anderen Gegner alles daransetzen, die Realisierung des Vorhabens zumindest zu erschweren. Denn das große Viadukt, das zwischen zwei Tunnel das idyllische Tal der Fils überspannen würde, war ihnen nach wie vor ein Dorn im Auge. Hinzu kam, dass während der langen Bauzeit jede Menge Abraummaterial abtransportiert werden musste, was Lärm und Staub verursachte.
    Angelika schlug die Saiten ihrer Gitarre energisch an und erstickte damit die drohende Diskussion im Keim. »Wenn die Sonne erwacht in den Bergen …« Zögernd stimmte auch Werner mit ein. Während der Gesang die Lichtung erfüllte, strebten auf dem nahen Wanderweg wieder einige Schatten dem abwärts führenden Pfad zu. Georg konnte sie von seinem Platz aus durch den Hochwald sehen und vermutete, dass es vier oder fünf Personen waren.
    Angelika leitete jetzt ohne Unterbrechung zu ihrem Abschiedslied über. »Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr. Die Zukunft liegt in Finsternis und macht das Herz uns schwer«, begann sie und erhielt sogleich vielstimmige Unterstützung. Dieses Lied von Robert Burns, das Claus Ludwig Laue 1951 ins Deutsche übersetzt hatte,
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