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Glasklar

Glasklar

Titel: Glasklar
Autoren: Gmeiner-Verlag
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und Lieder, die von Sehnsüchten, Liebe und verlorenem Glück erzählten. Je weiter die Zeit fortschritt und je mehr Alkohol im Spiel war, desto lauter wurden die Stimmen in den Lichtungen und drüben am Haus. Einzelne Personen machten sich auf den Heimweg, pinkelten noch schnell irgendwo ins nachtschwarze Gebüsch und suchten sich im Mondlicht den Pfad hinab ins Tal.
    »Wir bleiben, bis die Sonne aufgeht«, erhob sich im Kreise seiner Freunde ein Mittfünfziger, um noch einmal seinen Krug mit Bier zu füllen und damit zu demonstrieren, dass er noch lange nicht nach Hause gehen wollte. Um das lodernde Feuer saßen mehr als 30 Personen, allesamt einstige Schulfreunde, die sich immer zur Sommerzeit hier oben auf dieser Lichtung trafen, mit oder ohne Partner, um immer wieder aufs Neue alte Streiche aufleben zu lassen. Auch zwei ihrer ehemaligen Lehrer feierten regelmäßig mit, waren aber bereits nach Hause gegangen.
    ›Mammutfest‹ nannten die einstigen Schulfreunde ihr Treffen, seit sie anlässlich ihrer gemeinsamen Feier zum 50. Geburtstag unweit des Wasserberghauses einen Mammutbaum gepflanzt hatten. Ein Zeichen für die halbe Ewigkeit sollte er sein. Und sie malten sich aus, wie dieser ›Mammut‹, der unter günstigen Bedingungen durchaus 2.000 Jahre alt werden konnte, einst hoch und mächtig aufragen würde, selbst wenn die Erosion die Albkante schon bedrohlich näher gerückt haben würde.
    Dann jedoch hatten damals, vor inzwischen sieben Jahren, Unbekannte das zarte Pflänzchen aus dem Boden gerissen und gestohlen. Vielleicht war es ein gezielter Anschlag gewesen, weil der junge Baum als standortfremd galt. Selbst eine gravierte Metallplatte, in einen Stein zementiert, hatte die Übeltäter nicht abgehalten. Darauf stand ein Zitat von Eugen Roth zu lesen: ›Zu pflanzen einen schönen Baum, braucht’s eine halbe Stunde kaum. Zu wachsen, bis man ihn bewundert, braucht er – bedenk es – ein Jahrhundert.‹
    Die Klassenfreunde waren nicht bereit gewesen, diesen Frevel hinzunehmen. Einer von ihnen, der Gustav, dem dieses Waldstück gehörte, hatte in einer dunklen Oktobernacht einen Teil der Kameraden auf den Anhänger seines Traktors geladen und sie zu einer neuerlichen Mammutbaumpflanzung auf den Berg hinaufgefahren. Um weitere Attacken zumindest zu erschweren, umgaben sie damals das neue Pflänzchen mit einem stabilen Holzgerüst samt Maschendrahtzaun. Die ungewollte Folge war jedoch, dass fortan jeder, der den steilen Weg von der Landstraße zum Wasserberghaus hinaufging, einen Abstecher zu dem Käfig machte, und sich auf diese Weise ein Trampelpfad entwickelte, der zwangsläufig immer mehr Neugierige anlockte.
    Später hatte das Bäumchen sogar noch einen Angriff ganz anderer Art überstehen müssen: Als Naturschützer auf den ›Mammut‹ aufmerksam wurden, bekam Gustav eine behördliche Verfügung, den standortfremden Baum unverzüglich zu beseitigen. Irgendwann allerdings verlief der gegenseitige Schriftverkehr dann im Sande. Doch obwohl der Baum inzwischen größer gewachsen war, blieb die Ungewissheit, ob er jemals das erhoffte Alter erreichen würde. Erst im vergangenen Jahr hatte ein Unbekannter durch den Maschendraht hindurch seine Spitze abgebrochen, worauf der ›Mammut‹ unverdrossen eine zweite austrieb, jetzt aber ein bisschen verkrüppelt aussah.
    Auch an diesem Abend am Lagerfeuer war das Schicksal des Bäumchens wieder ein Thema. »Es symbolisiert den Zustand unserer Gesellschaft«, sinnierte der Mittfünfziger und setzte sich auf den rauen Holzstamm. »Alles wird zerstört, und das Schöne und Gute muss sich in einer feindlichen Umwelt behaupten.« Im Lichtschein des Feuers, das unablässig Funken in den Himmel sprühte, erkannte er, dass ihm seine Freunde bestätigend zunickten.
    »Und das Schlimme ist, Georg«, bekräftigte ihn ein Mann von der anderen Seite des Feuers, »dass der Vandalismus zunimmt und jeder machtlos danebensteht. Sogar die Polizei.«
    »So ist es«, mischte sich ein anderer ein. »Georg hat absolut recht.« Er nahm einen kräftigen Schluck.
    Georg blickte nachdenklich in die Höllenglut vor seinen Füßen. Er war Lokaljournalist der örtlichen Zeitung und fragte sich immer wieder, wohin die Laschheit der Gerichte und die schwindende Autorität der Polizei eines Tages noch führten. Irgendwann in den 80er-Jahren, da war er sich ganz sicher, hatte es in der Gesellschaft einen Knick gegeben, der zur Folge hatte, dass mittlerweile alle Werte über Bord geworfen
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