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Glasklar

Glasklar

Titel: Glasklar
Autoren: Gmeiner-Verlag
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ist rauf. Wir hatten doch keine Ahnung …« Wieder wurde sie von einem Weinkrampf übermannt.
    »Und dann?« Die Angerufene wurde ungeduldig. »Was ist dann passiert?«
    »Ein Schuss ist gefallen.« Sie war nicht in der Lage, die Situation ausführlich zu schildern. Flippi war tot. Flippi, ihr Freund, mit dem sie im letzten halben Jahr durch dick und dünn gegangen war. Mit dem sie nächtelang über Gott und die Welt diskutiert hatte, vor allem aber über dieses kapitalistische System, das es zu bekämpfen galt. Daran hatten sie beide keinen Zweifel gehegt. Und sie waren bereit, den Kampf mit den Bonzen aufzunehmen, mit den Kapitalisten und den reaktionären Säcken. Dass es blutig werden würde, hatten sie in Kauf genommen. Und seit drei Wochen bereits war der ›Point of no Return‹, wie es einer von ihnen gerade heute Abend formuliert hatte, überschritten. Der Punkt ohne Wiederkehr. Ein Punkt, ab dem es kein Zurück mehr gab, weil dies den sicheren Tod bedeuten würde.
     
    Wer mochte heute noch an jene Nacht im September denken? 31 Jahre war dies jetzt her, 31 Jahre. Eine weitere Generation war herangewachsen, die das nur noch aus Dokumentarfilmen oder vom Hörensagen her kannte. 1977, in jener Zeit, die man heute den ›Deutschen Herbst‹ nennt. Jene, die heute 50 und älter waren, konnten sich hingegen noch lebhaft an diese Tage entsinnen, als Deutschland zu brennen schien: Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt, drei Wochen später auch noch eine Lufthansa-Maschine, deren Pilot kaltblütig erschossen wurde. Und dann die Nacht zum 18. Oktober. Wenn Georg Sander, Journalist einer kleinen Tageszeitung, heute darauf angesprochen wurde, erwachten in ihm immer wieder aufs Neue die Erinnerungen an die dramatischen Geschehnisse. Er hatte damals in der Redaktion Spätdienst gehabt und noch eine Meldung für die erste Seite schreiben müssen, als die Lufthansa-Maschine auf dem Flughafen von Mogadischu gestürmt worden war und die Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes, die GSG 9, die Passagiere gerettet hatte.
    Sander grübelte ab und zu, auch wenn keiner davon sprach. Meist kamen vergangene Zeiten in ihm hoch, wenn er Menschen traf, die – wie er – Zeitzeugen solcher Ereignisse waren. Dann konnte in seinem Kopf ein ganzer Film ablaufen – wie einer dieser Rückblicke, die immer zum Jahreswechsel gesendet werden.
    Wenn sie an den Lagerfeuern sangen, diskutierten, den klaren Sternenhimmel über sich sahen, dann waren es solche Augenblicke, die ihn zurückversetzten und spüren ließen, wie die Zeit vergangen war.
    Auch dieser Juniabend war so ein Moment. Wie ein unsichtbarer Schleier kroch der Rauch von Lagerfeuern durch die laue Sommernacht. Im rötlichen Schein der knisternden Flammen zeichneten sich die Silhouetten von Menschen ab, die auf diesen Höhenrücken gekommen waren, um im privaten Kreis die Sommersonnenwende zu feiern. Es war die kürzeste Nacht des Jahres, und weit im Westen verlor sich das Dunkel des sternenklaren Himmels in einem bläulichen Schimmer, während im Süden bereits der abnehmende Mond durch das dichte Blätterdach der Bäume schien und dunkle Schatten warf. Drüben vor dem Wasserberghaus, wie sich die Hütte des Schwäbischen Albvereins hier nannte, saßen die Menschen dicht gedrängt an Biertischen. Die ›Wilden Gesellen‹, eine stimmgewaltige Gesangsgruppe aus den nahen Ortschaften, schmetterten ein Wander- und Fahrtenlied nach dem anderen. »Es klippert und klappert der Nagelschuh, und ich schlag froh den Takt dazu«, schallte es jetzt über die Hangkante hinweg, von der aus der Blick tief hinab ins Voralbgebiet fiel, wo sich die Lichter von Ortschaften und Autos aneinanderreihten. Der Hohenstaufen hob sich als markanter Kegel vom helleren Hintergrund ab, und am Himmel blinkten die grünen und roten Positionslichter eines auf Stuttgart zufliegenden Flugzeugs. Seine Landescheinwerfer pflügten sich durch die mondhelle Luft.
    Wie viele Menschen in so einer ungewöhnlich lauen Mittsommernacht auf den Wasserberg strömten, vermochte niemand zu sagen. Fest stand nur, dass sie alle zu Fuß kommen mussten, denn der einzige Fahrweg, den es gab, war dem Wirt des Albvereinshauses vorbehalten. Wege hier herauf gab es viele: steile und bequeme, über Treppenstufen oder schmale Pfade.
    Inzwischen war es weit nach Mitternacht, und an den rauchenden und Funken sprühenden Feuerstellen, wo die Menschen auf Steinen oder Baumstämmen dicht beieinandersaßen, erklangen Gitarren
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