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Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel

Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel

Titel: Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
Autoren: Frl. Krise
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klatschen sich ab und regen sich vor allem weiter auf.
    «Ich hab sein Teil gesehen!»
    «Vallah, was glaubt er, wer er ist?»
    «Darf er das, so ausziehen? Hier?»
    «Ist er behindert, der Spast?»
    «Voll nackt, ey, ich schwöre!»
    Wie prüde sind die eigentlich? Pubertierende eben!
    «Stellt euch mal nicht so an», sage ich.
    «Iiieeehhh.» Merve schüttelt sich vor Ekel. «Würden Sie das etwa auch machen, Frl. Krise?»
    «Warum nicht», sage ich tapfer. «Am Strand liegen doch immer ganz viele nackt.»
    Einige Mädchen kreischen wieder laut auf, jetzt aber richtig laut, und mustern mich entrüstet. Nein, ich will nicht, dass die sich vorstellen, wie ich nackt aussehe. Warum musste sich dieser blöde Mann auch ausgerechnet vor uns entblättern? Bei diesem Wetter!
    Plötzlich dreht sich der Mann um und kommt zurück, genau auf uns zu. Er hat es sich wohl anders überlegt mit dem Baden. Nun ist alles zu spät, das Geschrei steigert sich zum Crescendo. «Los, los!» Karl versucht die aufgescheuchte Bande vor sich her zu treiben. Und, oh Wunder, der unbarmherzige Anblick «des Teils» schlägt die Meute wirklich in die Flucht. Nur Nesrin bleibt stehen. «Vallah, ich schwöre», sagt sie, «immer müssen wir so früh nach Hause …»
    Am nächsten Tag, in unserer gemeinsamen Klassenarbeitsstunde, bringen Karl und ich noch einmal das Gespräch auf den nackten Mann.
    «Es verlangt niemand von euch, dass ihr euch nackt auszieht, aber dieses Geschrei war höchst überflüssig. Man hätte auch einfach weggucken können, dann hätte man den nackten Mann auch nicht gesehen», sagt Karl zu den Schülern.
    Aber gleich beginnt wieder ein riesengroßes Gezeter.
    «Ihhhhh!»
    «Vallah, hast du hingeguckt?»
    «Tschüüüsch, war er rasiert?»
    «Meine Mutter sagt, das ist in Türkei nicht erlaubt, nackt am See.»
    «Ja, da kommt Polizei.»
    «Wo Polizei, was Polizei?»
    Wir geben auf. Man muss mal einzeln mit ihnen reden! Zu Hause scheinen sie ja noch in ihrer Weltfremdheit unterstützt zu werden.
    Karl hat während der Wanderung Fotos gemacht, die er uns nun zeigen will. Deshalb hat er schon den großen Monitor aus dem Kunstraum geholt.
    «Fotos, wie geil!», ruft Aynur. «Auch von nackten Mann?»

Melanie geht verloren
    Unvorstellbar, dass ich früher oft ganz alleine mit meiner Klasse am Wandertag losmarschiert bin. Viele Kollegen machten das ebenfalls, und niemand warnte mich vor den möglichen und unmöglichen Folgen.
    Ich war mit meiner ersten Klasse ungefähr drei Kilometer durch den Wald gelatscht, der sich in der Nähe der Schule befand. Wir hatten gepicknickt, gespielt und getobt, erfolgreich alle Tiere des Waldes verscheucht, uns mit einem Radfahrer angelegt, viel Müll verstreut und teilweise wieder eingesammelt.
    Vor dem Abmarsch am Mittag zählte ich die ganze Bagage durch. Einer fehlte.
    Gibt’s doch nicht! Ruhig stehen bleiben! So, noch mal zählen! Sechsundzwanzig … Sieben … Da fehlte doch immer noch einer!
    «Melanie ist nicht da», sagte der dicke Björn, setzte sich auf einen Baumstamm und packte ein Brötchen aus. «Die haben sich doch gezankt, die Mädchen.»
    Wir strömten («Bleibt immer zu zweit», schärfte ich den Kindern ein) in alle Richtungen auseinander und riefen nach ihr.
    «Meeeeelaaaaaaaaanieeeeeeeeeeeeee! Meeeeelaaaaaaaaaaaaaanieeeeee!»
    Die Kinderstimmen verhallten dünn im Wald. Auf meinen Armen bildete sich trotz der sommerlichen Hitze eine Gänsehaut. Die ersten Mädchen schluchzten hysterisch.
    «Sie ist ermordet worden», wimmerte Yvonne. «Wir finden sie nieeeeeeehieeee wieder!»
    «Ach, Quatsch, bestimmt ist sie nach Hause gegangen. Bestimmt hatte sie Hunger», sagte Björn und biss herzhaft in das nächste Brötchen.
    Ich fasste wieder etwas Mut. Man sollte mehr dicke Menschen um sich haben!
    «Wir gehen jetzt zurück zur Schule», entschied ich nach einer weiteren halben Stunde des Wartens und Rufens. Handys gab es ja damals noch nicht.
    Der Rückweg durch die glühende Mittagssonne zog sich quälend lang hin. Wir trotteten niedergeschlagen Richtung Schule, und ich malte mir haarklein aus, wie ich die nächsten Jahre meines Lebens in einer gemütlichen Einzelzelle verleben würde.
    Vom Sekretariat aus telefonierte ich mit Melanies Mutter. Die schrie auf und brach in Tränen aus. Ich hätte am liebsten mitgeheult, aber stattdessen holte ich sie mit dem Auto ab, und wir fuhren noch einmal in das Waldstück.
    Melanie blieb verschwunden.
    Zurück in der Schule – keine Melanie
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