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Getrieben - Durch ewige Nacht

Getrieben - Durch ewige Nacht

Titel: Getrieben - Durch ewige Nacht
Autoren: Veronica Rossi
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dunklen Mantel und eine gut sitzende Hose mit sauberen Nähten trug, nicht die zerlumpte und zusammengeflickte Jägerkleidung, in der sie ihn im Herbst kennengelernt hatte. Die blonden Haare, die sein Gesicht umrahmten, waren jetzt kürzer geschnitten – ganz anders als die langen, unordentlichen Locken, die sie an ihm kannte.
    Er war neunzehn, wirkte jedoch älter als ihre Freunde in Reverie. Aber wie viele von ihnen hatten auch durchgemacht, was er erlebt hatte? Wie viele trugen die Verantwortung für Hunderte von Menschen? Keiner. Sie kamen aus völlig verschiedenen Welten.
Äther
, dachte Aria. Das war das Einzige, was Siedler und Außenseiter miteinander verband: Er bedrohte beide gleichermaßen.
    Perry blieb ein paar Meter vor ihr stehen. Mattes Licht fiel auf sein kantiges Gesicht, und sie sah die Schatten unter seinen Augen. Er fuhr sich mit der Hand über die Stoppeln am Kinn. Das kratzige Geräusch war so vertraut, dass Aria die goldenen Härchen fast an ihren Fingerspitzen zu fühlen glaubte.
    »Bitte entschuldige Reefs Benehmen.«
    »Schon vergessen«, sagte sie, aber das war es nicht. Sie hatte Reefs Worte noch im Ohr.
Siedlerin
hatte er sie genannt.
Maulwurf
. Schlimme Beleidigungen. Sie hatte diese Worte seit Monaten nicht mehr gehört. Bei Marron hatte sie sich mühelos eingefügt, als gehörte sie dorthin.
    Sie senkte den Blick und schaute auf den Boden zwischen ihnen. Drei Schritte für sie, zwei für ihn. Wenige Minuten zuvor hatten sie einander noch in den Armen gehalten. Jetzt standen sie so weit voneinander entfernt wie Fremde. Als hätte sich gerade alles verändert.
    Ein Fehler
. Auch das hatte Reef gesagt. Hatte er recht? »Vielleicht sollte ich lieber gehen.«
    »Nein – bleib.« Perry trat vor und nahm ihre Hand. »Vergiss, was er gesagt hat. Er kann sehr aufbrausend sein … Noch schlimmer als ich.«
    Sie schaute zu ihm hoch.
»Noch schlimmer?«
    Ein Lächeln umspielte seine Lippen, dieses schiefe Lächeln, das sie so sehr vermisst hatte. »Na ja, fast.« Er trat noch näher, und sein Gesichtsausdruck wurde ernst. »Ich bin nicht gekommen, um dich nur eine Nacht lang zu sehen oder um dir meine Hilfe anzubieten. Ich bin hier, weil ich mit dir zusammen sein will. Es könnte noch Wochen dauern, bis der Pass nach Norden eisfrei ist. Wir warten, bis es taut, und suchen dann gemeinsam nach der Blauen Stille.« Er schwieg einen Moment und schaute sie eindringlich an. »Komm mit mir, Aria. Bleib bei mir.«
    Bei diesen Worten breitete sich etwas Strahlendes in Aria aus, und sie prägte sie sich ein wie den Text eines Liedes – jede Note, gemessen gesprochen in seinem tiefen, warmen Timbre. Was auch geschehen mochte, diese Worte würden ihr immer bleiben. Und natürlich wollte sie nichts lieber als einwilligen, doch sie konnte die Angst nicht ignorieren, die in ihrem Magen aufwallte.
    »Ich möchte ja«, räumte sie ein. »Aber es geht nicht länger nur um uns beide.«
    Perry trug Verantwortung für die Tiden, und auch sie stand unter Druck. Konsul Hess, der Sicherheitschef von Reverie, hatte gedroht, Perrys Neffen Talon etwas anzutun, wenn Aria ihm nicht mitteilen konnte, wo sich die Blaue Stille befand. Das war der Grund – oder zumindest einer der Gründe – dafür, dass sie in die Außenwelt zurückgekehrt war.
    Aria schaute Perry in die Augen und brachte es einfach nicht fertig, ihm von Hess’ Erpressung zu erzählen. Er konnte ohnehin nichts tun. Wenn sie es ihm sagte, würde er sich nur Sorgen machen.
    »Reef meinte, der Stamm würde sich gegen dich wenden«, sagte sie stattdessen.
    »Reef irrt sich.« Verärgert schaute Perry kurz in Richtung Wald. »Sie brauchen vielleicht ein wenig Zeit, um sich daran zu gewöhnen, aber sie tun, was ich sage.« Er drückte ihre Hand, und ein Lächeln ließ seine Augen aufleuchten. »Bitte sag Ja. Ich weiß, dass du es willst. Roar schlägt mich windelweich, wenn ich ohne dich auftauche. Aber es gibt noch einen anderen Grund. Vielleicht hilft er dir ja bei deiner Entscheidung.«
    Er ließ seine Hand über ihren Arm wandern und fuhr mit dem Daumen über ihren Bizeps. Die Schwielen an seinen Händen, die vom Bogenschießen stammten, waren rau und weich zugleich und jagten Aria einen Schauer durch den Körper. Sie hörte, wie eine kühle Brise die Blätter der Bäume rascheln ließ, und spürte sie dann auf ihrer Wange. Bei niemandem sonst fühlte sie sich so wohl und sicher in ihrer Haut wie bei ihm.
    Perry redete auf sie ein. Sie musste in ihren
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