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Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Titel: Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
Autoren: Mairisch
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kommt, bevor man den eigentlichen Schmerz spürt.
    Ich habe keine Erinnerungen an diesen Tag, aber Großmutter hat erzählt, dass unsere Eltern uns zu ihr gebracht hatten, weil sie ins Theater wollten. Wir blieben dann einfach bei ihr, bei Großmutter, weil unsere Eltern nicht zurückkamen. Ein Falschabbieger rammte das Auto meiner Eltern und schleuderte sie gegen ein Brückengeländer. Den Aufprall haben sie nicht überlebt. Soweit ich weiß, waren beide auf der Stelle tot. Von einem Augenblick auf den anderen.
    Nach dem Frühstück am nächsten Tag hat Großmutter jedem von uns ein Notizbuch geschenkt und uns Stifte gegeben. Wir sollten malen, auf was wir uns freuten und was wir in der nächsten Zeit machen wollten. In meinem Buch sind nur verschiedenfarbige Kringel und Striche, manchmal kann man ein Gesicht vermuten, mehr ist nicht zu erkennen, ich war drei Jahre alt, als meine Eltern starben. Aber Tom war schon in der ersten Klasse, damals war er noch normal, er hat ein paar Buchstaben in sein Buch gemalt. Zoo , steht da, Pirat, Schwimmbad .
     
    Ich hatte Martin gewollt. Oder besser: Ich wollte Martin wollen. Ich dachte, es sei an der Zeit, sich endlich zu verlieben. Ich hatte schon vorher Typen, aber ich wollte einen Freund, einen richtigen. Und dafür hatte ich mir Martin ausgesucht, das ist inzwischen fast ein Jahr her. Martin passte zu mir, hatte ich beschlossen, ich mochte ihn. Zwei Mal sind wir zusammen ins Kino, dann hat er mich zu sich eingeladen, wir haben ein paar Stunden in seinem Zimmer gehockt und uns unterhalten, sind ganz vorsichtig immer näher gerückt, dann habe ich ihn geküsst. Ich weiß noch, wie ich hüpfend nach Hause gerannt bin, obwohl ich eigentlich gar nicht verliebt war. Ich wollte aber verliebt sein, und deshalb bin ich gehüpft, ich dachte, dass man das dann eben so macht. Beim nächsten Mal haben wir kaum geredet, nur geknutscht. Und dann war es so weit, dass ich ihn zu mir einlud. Der Erste, den ich einlud, weil oder obwohl ich ihn küsste. Es war dann auch gleich unser letztes Treffen, danach haben wir kaum mehr miteinander geredet. Wir saßen in unserem grünen Garten, es wurde langsam Abend, Grillen, Mücken, T-Shirt-Wetter, eigentlich perfekt. Ich hatte es aber schon im Gefühl, dass aus uns nichts werden würde. Martin war komisch, er küsste komisch, er sah sich ständig um. Aber ich wollte den Moment genießen, wollte einfach weitermachen, auch wenn Martin vielleicht doch nicht der Richtige wäre.
    Und dann hat Tom sich zu uns gestellt und uns zugeguckt. Er hat sich langsam rangeschlichen. Erst stand er an der Kellertür und sah zu uns rüber, dann ist er immer näher gekommen, bis seine Nase schließlich nur noch Zentimeter von meinem Gesicht entfernt war. Er hat leise gegrummelt, die Augen zusammengekniffen und die Nase gerümpft, das macht er immer, wenn er neugierig ist und sich konzentriert. Sieht besonders dämlich aus. Ich kann verstehen, dass Martin irritiert war. Aber Tom genauso: Es hat ihn eben interessiert. Was wir da machten, kannte er nicht. Küssen, hat er so noch nie gesehen bei seiner kleinen Schwester, vielleicht dachte er, dass wir uns in die Köpfe beißen. Das habe ich Martin dann auch gesagt, und er hat rumgedruckst und gemeint, dass er nichts gegen Behinderte habe und so weiter, aber dass er sich nicht gern beim Knutschen zugucken ließe. Also habe ich Martin an der Hand genommen und ihn in mein Zimmer mitgenommen. Wir haben uns auf mein Bett gesetzt und weitergeknutscht, allerdings nur kurz, dann musste Martin los. Ich habe mein T-Shirt ausgezogen, und Martin stand kurz in der Tür und guckte seine Schuhe an.
    »Wirklich. Muss los«, sagte er.
    »Na klar«, sagte ich, »wollt dir zum Abschied auch nur kurz meine Titten zeigen. Machs gut, Martin! «
    Erst war ich stolz auf den Satz, dann habe ich mich sehr geschämt, heute finde ich ihn wieder gut. Wir haben uns jedenfalls nicht mehr beieinander gemeldet und in der Schule sind wir uns aus dem Weg gegangen.
     
    Ich weiß noch, wie es begonnen hat, wie Pfannkuchentag war und Großmutter in der Küche stand und Unmengen von Vollkornmehl mit einem einzigen Ei zu verrühren versuchte und böse wurde, weil kein Teig entstand. Wie sie wieder und wieder den Schlüssel verlegte und Tom beschuldigte.Wie sie mit einer riesigen Beule im Wagen vorfuhr und erst alles leugnete, dann behauptete, ein Fremder habe sie angefahren und sei geflohen, bis schließlich die Polizei vor der Tür stand und der Arzt ihr die
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