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Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Titel: Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
Autoren: Mairisch
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Fahrerlaubnis entzog. Später saß sie nur noch stundenlang vor dem Fenster oder vor einer Wand und starrte. Ich habe ihr Fotos in die Hand gedrückt, Musik angemacht, sie massiert und ihr Mobiles vor die Nase gehängt. Sie hat mich genervt, wenn sie da saß. Ich hatte das Gefühl, dass sie es sich selbst übel nahm, dass sie verblödet war. Sie war sehr oft wütend. Das war sie früher nie. Es ist mit der Dummheit gekommen. Zunächst hat sie sich noch dagegen gewehrt, dass ihr Hirn sich einfach nicht erinnern konnte. Wenn sie gefragt wurde, wie alt sie ist, sagte sie: »Ich bin 1918 bei Kiel geboren, rechnen Sie es sich doch selbst aus.« Später wusste sie nicht mehr, wann sie geboren worden war, wusste nicht mehr, womit sie früher gerne Zeit verbracht hatte, was ein Buch war, eine Stricknadel, ein Fotoapparat. Irgendwann wusste sie nicht mehr, was das Gefühl in ihrem Bauch war und vergaß zu essen, und wenn man sie fütterte, vergaß sie zu kauen und zu schlucken.
    Ich wusste, dass sie sterben würde und deshalb hatte ich mich darauf vorbereitet. Ich hatte mich informiert über Sorgerecht, Erbrecht, staatliche Unterstützung. Ich habe Bestattungsgesetze, Friedhofsgesetze, Leichenverordnungen zusammengetragen und gelesen, ich habe Listen gemacht und Kosten kalkuliert. Sterben ist teuer. Alles kostet Gebühren, es gibt Bestattungsgrundgebühren, Grabnutzungsgebühren, Aufbewahrungsgebühren, Überführungskosten, Gebühren für Behörden, Kirche, Benutzung der Friedhofseinrichtungen, Einäscherung und Urnenbeisetzung. Es ist nicht angenehm, Gesetzestexte zu lesen, und es ist erst recht nicht angenehm, Gesetzestexte über den Tod zu lesen. Aber noch unangenehmer ist es, kopflos und ausgeliefert zu sein. Ich wollte vorbereitet sein. Als meine Eltern starben, war ich viel zu klein. Ich wollte sichergehen. Es geht auch um Tom.
    Ich finde es erstaunlich, wie unaufgeregt, wie sicher und geregelt alles schien, mein ganzes Leben lang. Egal was auch passiert ist, es ging immer weiter, immer war Großmutter da und hat uns gesagt, was zu tun ist, hat mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Jammern füllt keine Kammern.« Wie es uns auch durchgeschüttelt hat, durch den Tod unserer Eltern oder Toms Unfall, es gab immer eine Sicherung, ein Netz, das uns aufgefangen hat. Großmutters Ideen, ihre Disziplin, ihre Art, immer auf dem Teppich zu bleiben. Eine Tasse Bohnenkaffee und weiter.
    Nach der Sache mit Tom war auch Großmutter eine ganze Zeit lang angeschlagen, sie hat sich Vorwürfe gemacht, da bin ich sicher. Alles lief weiter, natürlich, es gab Pläne, aber Großmutter war stiller, knurriger. Aber dann hat sie eines Abends einfach entschieden, auch diese Situation hinzunehmen, sie anzunehmen. »Ruhige See macht keinen guten Segler«, sagte Großmutter. Ich weiß noch, wie sie da stand, neben mir, ich reichte ihr das nasse Geschirr, das sie trocknete und plötzlich hielt sie inne und sah mich an, sekundenlang und dann sagte sie, das werde ich nie vergessen: »Das klappt schon, mit dem Leben, Elisabeth. Man muss nur immer was vorhaben.«
    Es hat geklappt, wir sind durchgekommen. Aber jetzt ist sie plötzlich weg und wir sind allein. Meine beiden großen Brüder und ich. Und wieder ist alles in Bewegung, dreht sich, kreiselt. Ich taumele, auch wenn ich weiß: ich schaffe das, ich habe viel vor.
     
    Kaum zu glauben, dass es erst zweieinhalb Tage her ist. Vorgestern Nachmittag nach der Schule auf dem Weg nach Hause, ich denke lauter Kleinigkeiten, mache im Kopf eine Einkaufsliste, einen Zeitplan für den Tag, überlege, welche Hausaufgaben ich mache und welche nicht, überlege, was heute noch gegessen werden sollte und was sich noch länger hält. Zwischendurch muss ich immer wieder halblaut eine Melodie summen, eine kleine Tonfolge, die mir nicht aus dem Kopf geht, ich kenne den Text nicht mal. Keine Ahnung, was das für ein Lied ist, aber es nervt mich und ich hole schon, als ich gerade erst in unsere Straße biege, den Schlüssel aus der Tasche, um damit so laut zu klimpern, dass ich meinen Ohrwurm übertöne. Wenn die Nachbarn mich jetzt sehen, summend und laut klimpernd, dann denken sie: Jetzt hat es die Elisabeth auch noch erwischt. Ich laufe die Straße entlang und auf unser Haus zu. Ich stecke den Schlüssel in das Schloss, ziehe ein bisschen am Griff, dann drücke ich, die Tür geht auf und vor mir steht, ohne Vorwarnung: Tom. Er wartet offensichtlich auf mich. Er steht auf der Schwelle und sieht mich ernst an. Er
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