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Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Titel: Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
Autoren: Mairisch
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Tagen. Jetzt ist es Provokation. Es gibt zu reden, aber wir reden nicht. Wir tun wie immer, warum tun wir wie immer, es ist nicht wie immer. Ich möchte, dass sie fragt: Warum joggst du nicht mehr? Ich möchte antworten: Weil ich dich nicht verletzen möchte , und dann will ich wissen, was sie antworten wird.
     
    Der Rollstuhl lehnt zusammengeklappt an der Garderobe, die Krücken zwischen den Regenschirmen, wie ein Strauß
    unterschiedlicher Blumen in einer Vase. Ich habe schon Bilder gesehen von der Prothese, die sie gerade anfertigen. Eine Art übergroßer Fingerhut, in den man den Stumpf steckt, darunter ein sichelartiger Fuß, aus Kohlefaser, stoßgedämpft, eine Sportprothese. Natürlich hat sie eine Sportprothese gewählt. Als Zeichen, als Jetzt-erst-recht . Susan und ihre kleinen Manifeste.
     
    Ich sitze im Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt, sie liegt zwischen meinen Beinen, spielt mit ihren warmen Lippen an meinem schlaffen Schwanz. Mein Kopf fällt in den Nacken, automatisch. Ich stöhne, um ihr zu zeigen, dass es mir gefällt, wobei mir eigentlich mulmig zumute ist.
    Ich habe gelesen von sogenannten Negativ-Fetischisten, die Verkrüppelung und Amputation sexuell erregen. Wie geht das. Ich habe nur Angst, ihr wehzutun. Ich muss an das verbundene Ende ihres Beins denken, dass ich daran stoßen könnte. Wie wird es sich anfühlen, wenn sie ihre Beine öffnet und links ein Stummel in der Luft zappelt. Würde sie umkippen, wenn sie auf allen vieren vor mir kniet? Über solche Fragen könnte Susan ihr kratziges Lachen lachen. Ich wüsste nicht, wie ich mit ihr lachen sollte und behalte sie für mich.
    Ich konzentriere mich auf Susans Mund, ihre Hände an meinen Eiern. Ich möchte hart werden, für sie. Es geht nicht. Was für eine Demütigung, jetzt bei ihr zu versagen, bei der Versehrten, der Behinderten. Ihre Bewegungen sind dieselben wie vorher, ihr Geruch, ihre Stimme, alles fühlt sich an wie immer.
    Ich konzentriere mich, mit geschlossenen Augen angestrengt auf der Suche nach Bildern, nach Situationen und Momenten. Aber wenn ich an Susan denke, sehe ich sie mit beiden Beinen, ich ficke sie im Liegen und halte ihre beiden Schenkel in den Händen oder von hinten im Stehen, das rechte Bein gerade, das linke angewinkelt auf dem Tisch.
    Es geht nicht.
    »Was denn los?«, fragt sie.
    Ich lächle. »Nichts, nur müde, muss schlafen, tut mir leid.«
    Tut mir leid. Ich drehe mich um, die Worte stehen im Raum. Ich kneife die Augen zusammen. Ich will, dass der Moment vorübergeht. Ihre Hand gleitet zwischen meine Beine. Sie brummt. Das macht alles nur schlimmer. Warum muss sie es sein, von der es ausgeht. Ich sollte es sein. Ich sollte sie ermutigen, ihr zeigen, dass ich zu ihr stehe, dass es weitergeht.
    Ich habe Angst, dass das, was ich fühle, Ekel ist.
    Sie atmet heiß, sie schnurrt und quiekt und zeigt mir, wie feucht sie ist, sie leckt an mir, sie säuselt, stöhnt und setzt sich auf mich und alles, was ich denken kann, ist, was fehlt, was nicht da ist, was nicht geht.
     
    Du hast eine behinderte Freundin, denke ich und spiele mit einer Büroklammer. Vom Schreibtisch im Büro aus kann ich die Fenster des Fitness-Studios gegenüber sehen. Schon am Morgen trainieren die winzigen Menschen und wuseln wie aufgeregte Ameisen. Hinter mir Bürolärm, Gespräche aus der Ferne. Natürlich habe ich keinen Urlaub genommen, ich bin nicht in ein Loch gefallen, überhaupt nicht. Im Gegenteil: hier bin ich noch sicher, hier gibt es klare Aufgaben, klare Themen, wir reden über die aktuellen Aufträge und Ausschreibungen. Natürlich, Kollegen haben sich erkundigt, die Lippen aufeinandergepresst, mir aufmunternd zugenickt. Bald hat jeder einmal genickt, dann sitze ich wieder an meinen Entwürfen. In der Mittagspause werde ich ausgespart von Sprüchen und Witzen, man bemüht sich um Normalität und meidet mich. In der Kaffeeküche wird es ruhig, wenn ich komme, und in den Blicken, die mich treffen, erkenne ich das, was sie für Verständnis halten.
    Wer will eine behinderte Freundin. Ich hätte gerne einen Freund, den ich fragen könnte, ob er falsch findet, was ich denke: Nein, man will keine behinderte Freundin. Wie kann man das wollen. Ich möchte jemandem davon erzählen, der nicht sofort weiß, was zu tun ist. Darf man an Trennung denken. Warum macht mich ein fehlendes Stück Bein am Ende meiner Freundin fast verrückt. Und warum gelingt ihr das Leben so leicht, als wäre nur ein Artikel aus dem Supermarktsortiment
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