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Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Titel: Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
Autoren: Mairisch
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der Lücke.
     
    »Wie ein Film«, sagt Schubert und schüttelt den Kopf, »ich seh das alles plötzlich wie einen Film vor mir.«
    »Und wie ist der Film?«, frage ich.
    »Ja«, sagt Schubert, »das ist es ja: langweilig.«
    »Wie?«, sage ich. »Neun Jahre lang denkst du an dieser Story rum und es kommt nichts dabei raus? Da muss doch was dran sein, so langweilig kann man doch gar nicht sein!«
    »Wie meinstn das?«, fragt Schubert, »meinst du etwa, ich denk mir den ganzen Quatsch aus?«
    Ich schüttele den Kopf, aber das ist eine Lüge. Eigentlich denke ich das schon. Eigentlich bin ich die ganzen neun Jahre davon ausgegangen, dass Schubert einfach keinen Bock mehr hatte auf Mülltonnen ausleeren und seinen neonorangenen Anzug, auf die ewigselben Straßen, Türen, Tonnen und Tage. Und dann hat er einfach bei irgendeiner Mülltonne gedacht: So, das wars, ich gehe. Und dann ist er gegangen, mitten bei der Arbeit, der Müllwagen bog um die Ecke und Schubert drehte um und verpisste sich. Ich weiß noch, wie ich aus dem Innenhof gegenüber kam und nur noch einen orangefarbenen Wischer am anderen Ende der Straße sah, das war wohl Schubert, wie er um die Ecke bog und sich vom Acker machte. Ich rief nach ihm, aber er kam nicht zurück. Ich bin zum Wagen und hab die letzten Straßen allein gemacht, hab ihn nicht verpfiffen, so einer bin ich nicht. Ich mag Schubert nicht, aber ich scheiße ihn nicht an, wir sind Kollegen. Schubert hätte dasselbe für mich getan, er hätte natürlich ein Riesenfass aufgemacht, mir seine Einträge und Notizen wochenlang unter die Nase gehalten, aber er hätte mich auch nicht verpfiffen. Schubert ist kein schlechter Mensch, nur ein unglaublich langweiliger. Er hat sich dann drei Tage später selbst angezeigt in der Personalabteilung, da hatte er schon ein ärztliches Attest.
    Schubert war also verschwunden und machte den Rest des Tages einfach, worauf er Bock hatte, langweiliges Zeug, wie ich Schubert kenne, aber anderes langweiliges Zeug als sonst. Davon bin ich ausgegangen. Und dann sind ihm, vermutlich relativ schnell, wie ich Schubert einschätze, die Ideen ausgegangen. Und dann hatte Schubert, so habe ich es mir immer vorgestellt, einen, vielleicht den einzigen, genialen Moment in seinem Leben und hat sich im Morgengrauen einfach über diesen Zaun gehängt. Das ist doch ein wirklich cleverer Zug! Einfach das Ende einer Geschichte in die Welt zu stellen, das so abgefahren ist, dass jeder unbedingt wissen will, wie die ganze Geschichte geht. Aber Schubert sagt einfach »Häh« und tut so, als könne er sich an nichts erinnern. Das ist geheimnisvoll! Das ist verwegen! Das sind völlig neue Attribute für Schubert! Und Schubert, seien wir mal ehrlich, hat sich doch schon immer nach einem Geheimnis in seinem Leben gesehnt, wenigstens nach einem kleinen. Schubert ist einfach nicht der Typ für Geheimnisse, nie gewesen und das hat ihn selbst gewurmt, da ist es doch keine schlechte Idee, sich selbst eins hinzubauen.
    Und da muss ich auch einfach mal sagen: Respekt, Schubert, das hätte ich dir nicht zugetraut, dass du auf so eine Idee kommst, dass du das tatsächlich durchziehst. Neun Jahre sind ne lange Zeit. Schubert, würde ich am liebsten sagen, Schubert, ich habe dich unterschätzt. Aber natürlich kann ich das nicht sagen, denn Schubert besteht ja darauf, dass alles genau so gewesen ist, wie er sich angeblich nicht erinnern kann. So und nicht anders.
    Aber dass er jetzt behauptet, er könne sich wieder erinnern, und im Grunde sei damals einfach nichts passiert, das passt nicht. Das kann nicht sein Ernst sein: Neun Jahre Geheimniskrämerei und wildeste Fantasien und dann die totale Langeweile. Ich verstehe Schubert nicht. Aber eigentlich habe ich Schubert nie verstanden. So ein Leben! Dieser trübe Schubert hat schon in der Schule die Trinkpäckchenstrohhalme aus den Papierkörben gepickt und nach Farben sortiert, Schubert hat eben einfach nichts vom Leben, er macht unbezahlte Überstunden und bessert die Stellen im Lack des Müllwagens aus, er setzt sich hin und isst schnaufend Graubrot und hält das für eine Freude des Daseins. Da schüttelt man den Kopf und ist froh, dass man ein eigenes Leben hat.
    Und dann plötzlich erwacht in mir eine Unsicherheit: Wer verarscht hier eigentlich wen? Ich dachte immer, ich mache mich über Schubert lustig, aber vielleicht lacht Schubert auch, bloß zwei Etagen höher. Vielleicht sitzt er abends allein in seiner Bude und kann sich kaum halten vor
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