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Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Titel: Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
Autoren: Mairisch
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seine Augen an und guckt ernst, Aufpassen ist sein Ding.
    »Elli, Elli«, sagt er. Das bedeutet: Ja.
    Er ist ruhig. Aber sobald ich auf der Treppe bin, höre ich ihn wieder lachen. Ein bisschen anders ist es jetzt doch, etwas fühlt sich anders an, meine Füße sind leichter, mein Magen ist hohl, überhaupt: Ich bin leer, ganz leicht, wie schwebend. Ich gehe zum Schreibtisch, hole die Telefonliste. Ich bin vorbereitet. Auf der Liste ist die Reihenfolge aller Leute, die ich anrufen muss, festgelegt, alle wichtigen Nummern sind notiert. Ich rufe zuerst den Arzt an. Dann ein Bestattungsunternehmen, dann die Diakonie. Ich mache das. Großmutters Disziplin. Bleib auf dem Teppich, Elisabeth. Alles kein Problem, ich bin gefasst und nüchtern. Erst bei der letzten Nummer auf der Liste muss ich eine Pause machen. Ich stehe auf und schließe die Tür, weil Tom immer noch Radau macht. Es klingt, als würde er gegen die Wände schlagen, rumspringen, mit sich selbst um die Wette rennen. Dann setze ich mich hin und atme tief. Ich wähle Willems Nummer. Es klingelt zwei Mal, dann nimmt Willem ab. Ich erkenne seine Stimme sofort. Ich sage Willem, er habe sich lange genug nicht blicken lassen und jetzt sei es halt mal wieder Zeit, weil Großmutter tot im Wohnzimmer sitzt. Willem sagt erst nichts und dann:
    »Elli, ich kann hier jetzt nicht weg, verstehst du das? Astrid und ich haben vorgestern einen Jungen bekommen.«
    Ich schlucke und sage: »Du kannst ihn ja mitbringen, den Kleinen, aber herkommen musst du wohl, Großmutter ist auch deine Mutter.« Ja, sie war vielleicht am wenigsten seine Mutter und sie haben sich am Ende nur noch gestritten, aber sie war auch seine Mutter. »Sie ist auch deine Großmutter«, sage ich, »wenn du jetzt nicht kommen willst, wann dann?«
    Willem kommt also. Willem, der sich jahrelang nicht hat blicken lassen, kommt und bringt seine neue, kleine Familie mit. »Jedes Problem hat ein Geschenk in der Hand«, hat Großmutter immer gesagt.
     
    Woran ich mich erinnern kann, ist die Zeit nach Toms Unfall, in der wir ihn oft im Krankenhaus besucht haben. Dass mein großer Bruder plötzlich ein anderer war, dumm und ohne Verstand. Ich kann mich an den ersten Spaziergang erinnern, Tom hat noch im Rollstuhl gesessen und keiner hat etwas gesagt, das einzige Geräusch war der Rollstuhl und unsere Schritte auf dem Rollsplitt und Großmutters Weinen. Ich weiß noch, dass ich einen Rock anhatte und Lackschuhe, denn ich habe nur auf meine Füße gesehen und Großmutters Weinen gelauscht, das hatte ich noch nie gehört. Ich erinnere mich, dass ich Angst hatte, dass ich ahnte, dass etwas kaputt gegangen war. Dass man es nicht würde wiederherstellen können. Dass etwas zu Ende gegangen war, um das Großmutter trauerte. Ich glaube nicht, dass ich begriff, was.
     
    Ich löse meine Augen von der Straße, ziehe die Knie aus den Rippen der Heizung und gehe die Treppe hinunter. Tom hat die Tür schon aufgerissen und umarmt Willems Kopf und küsst ihn auf die Nase. Wenn die beiden nebeneinander stehen, kann man nicht glauben, dass sie Brüder sind. Willem ist klein und dick und hat wenig Haare und sieht aus wie ein echter deutscher Ehemann, Tom dagegen ist lang und dünn und hat volles Haar, viele Locken und er sabbert und ist natürlich nicht so beherrscht wie Willem. Aber dann merkt man es doch: Willem wischt sich ohne mit der Wimper zu zucken, lachend und so beiläufig Toms Sabber aus dem Gesicht, wie man es nur kann, wenn man Toms Bruder oder Schwester ist. Dann knufft er Tom lässig in die Seite, schmeißt die Arme in die Luft und jagt Tom in die Küche.
    Tom schreit wie am Spieß, wie immer, wenn er verfolgt wird, und kriegt sich nicht mehr ein vor Lachen. Ich höre Toms kehliges Lachen, weil er gewonnen hat, und wie er laut und ernst sagt:
    »Nein, Willem, nein!«
    Willem kommt zurück und nimmt mich in den Arm. »Elli«, sagt er. Nur einmal Elli. Hat er lange nicht gesagt, sechs Jahre vielleicht. Aber er kann es noch. Es hört sich an wie früher.
    »Wo ist denn Astrid?«, frage ich.
    »Ach, die wartet noch im Wagen«, sagt Willem.
    »Wieso wartet die im Wagen?«, frage ich und Willem sagt nichts und hinter ihm sehe ich, dass Tom sich leise anschleicht. »Worauf wartet die denn da? Darauf, dass du das hier kurz regelst und ihr dann wieder fahren könnt, oder was?«
    »Mann, Elli, wegen dem Kleinen.«
    »Des Kleinen.«
    »Was?«
    »Wegen des Kleinen. Genitiv.«
    »Elli, echt«, sagt Willem und es ist still für einen
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