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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Autoren: Horst Petri
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Ich möchte dieses Bild aus der Einleitung hier noch einmal aufgreifen, um an die Tatsache zu erinnern, dass beide den gleichen Grund für ihr Leben in dem griechischen Fischerdorf hatten: die Entfremdung und Vereinzelung des Individuums in einer technokratisch organisierten Welt.
    Ich verknüpfe das Bild mit einer persönlichen Geschwistererfahrung unmittelbar vor Niederschrift dieses letzten Kapitels. Es war der dritte Adventssonntag. Meine ältere Schwester, die seit 40   Jahren aus beruflichen Gründen in der Schweiz lebt und dort glücklich verheiratet ist, besuchte nach langer Zeit für einige Tage meine jüngere Schwester und mich in Berlin. Am Nachmittag besuchten wir gemeinsam ein Kirchenkonzert, bei dem die Jüngere im Chor mitwirkte. Zum Abendessen hatten meine Frau und ich die gesamte Familie zu uns eingeladen. Große Festtafel in der Küche. Crostini, gebratene Gambas, Rotwein und fröhliches Stimmengewirr. Mehr zufällig stand ich mit der älteren Schwester nach dem Essen im Berliner Zimmer vor dem Flügel. Ein Erbstück meiner Eltern. »Spielst du noch manchmal?«, fragte sie. »Selten. Aber sein Klang ist herrlich, deswegen fantasiere ich gelegentlich darauf rum.« »Ich möchte ihn noch einmal hören«, sagte sie, »seit ich aus dem Haus gegangen bin, weiß ich nicht mehr, wie er klingt.« Nach einigen Takten höre ich hinter mir ein stoßweises Atmen. Ich drehe mich um. Meine Schwester weint. Ich nehme sie in den Arm, und während wir uns lange festhalten, spricht sie in unzusammenhängenden Sätzen von unserer Kindheit, von denSonntagmorgen, an denen mein Vater auf dem Flügel spielte, von ihrem langen Aufenthalt im Ausland und der Trennung von uns Geschwistern und unseren Familien. Auch vorhin, als sie unsere »kleine Schwester« im Chor habe singen sehen, seien ihr schon die Tränen gekommen. Als wir in die Küche zurückgehen, nimmt keiner Notiz von unseren verweinten Gesichtern. Jeder scheint verstanden zu haben. Kein Grund, die Fröhlichkeit zu unterbrechen. Wirklich nicht.
    Die Szene ging mir nicht aus dem Kopf, und ich überlegte, was wohl das Gemeinsame sein könnte an der Flucht von Anja und Steppke und der durch eine einfache Klaviermusik ausgelösten tränenreichen Umarmung zweier Geschwister. Ich vermute, es ist die Erfahrung der Fremdheit, oder umgekehrt: des Glücks, in der Geschwisterliebe die Fremdheit zu überwinden.
    Oft erkennt man erst in Gegenbildern die Realität der eigenen Situation. Karnataka. Eine kleine Provinz im südlichen Teil des indischen Kontinents. Wir sitzen im Schatten auf den Marmorstufen eines Tempels in der Ruinenstadt von Hampi. Kindergruppen durchstreifen die Innenhöfe. Plötzlich kommt eins auf uns zugelaufen, bleibt lachend vor uns stehen, sagt »Hallo!« und schaut uns an, uns Weiße. Andere folgen ihm, und ehe wir uns versehen, sind wir umringt von einer dichten Schar von Kindern, die alle »Hallo!« sagen und uns anstrahlen aus ihren tiefdunklen Augen. Die Tempelwelt verschwindet, wir sehen nichts mehr vor uns als bunte Kleider, schwarze Haare, sich ausstreckende braune Arme und Kindergesichter. – »Indische Kinder   – Gottes Geschenk an die Menschheit«, finde ich später als Notiz in meinem Tagebuch wieder.
    Wo viele Kinder sind, gibt es viele Geschwister. Ob in Indien, Indonesien, Afrika, Südamerika – in vielen Teilen der Erde sind Kinder der einzige Reichtum breiter Bevölkerungsschichten. Was ihr Reichtum ist, ist unsere Armut, wie umgekehrt, ins Ökonomische gewendet, unser Reichtum ihre Armutist. In Deutschland gibt es Kinderreichtum fast nur noch in ausländischen Familien. Wenn in Kreuzberg eine türkische Familie einen Notarzt anfordert, weiß man nie, ob der Opa oder die Oma, eine der Töchter oder der Söhne, eine der Schwiegertöchter oder Schwiegersöhne oder einer der etwa ein Dutzend Enkel krank ist. Oft legen sich gleich mehrere ins Bett, weil sie sich in der relativen Enge der Wohnung gegenseitig angesteckt haben. Sicher ist nur, dass sie alle besorgt sind. Während man sich den Gang zum Krankenzimmer bahnt, kommen aus jedem Zimmer immer neue Menschen hervor, groß und klein, und alle stehen um das Krankenbett, in dem der Patient schwitzend seine Krankheit zu genießen scheint. Kinder turnen auf dem Bett herum oder umlagern den geöffneten Arztkoffer, den man nicht eher schließen darf, bis jedes von ihnen einen Holzspatel oder eine Plastikspritze als Ersatz für eine Wasserpistole ergattert hat.
    Wie trostlos dagegen der
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