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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Heinrich August Winkler
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Weiterentwicklung seines Projekts.
    Die afroamerikanischen Sklaven waren nicht die einzige Gruppe, der unveräußerliche Rechte vorenthalten wurden. Die Ureinwohner Nordamerikas und Australiens wurden an den Rand der physischen Ausrottung getrieben. Aber auch Teile der weißen Bevölkerung waren anhaltender Diskriminierung ausgesetzt. Es dauerte lange, bis die volle Gleichberechtigung der Frauen durchgesetzt war, und auch bei den Arbeitern waren staatsbürgerliche Rechte und ein menschenwürdiges Dasein erst das Ergebnis schwerer, oft gewaltsam ausgetragener Konflikte. Beide, die Frauen und die Arbeiter, konnten sich bei dem, was sie forderten, auf die Verheißungen von 1776 und 1789 berufen: Ideen, aus denen sich Waffen im Kampf gegen eine widerstrebende Wirklichkeit schmieden ließen.
    Die Entstehung des westlichen Projekts, die Ungleichzeitigkeit seiner Verwirklichung, die Widersprüche zwischen Projekt und Praxis: Mit diesen Stichworten sind die Leitlinien der vorliegenden Darstellung umrissen. Sie will keine «histoire totale», sondern eine Problem- und Diskursgeschichte sein: ein Versuch, die Hauptprobleme der europäischen und der nordamerikanischen Geschichte sowie das Nachdenken über sie in ihrem atlantischen oder westlichen Zusammenhang zu erörtern. Von den nichtwestlichen Ländern bezieht die Darstellung Rußland am stärksten mit ein: Das Zarenreich und später die Sowjetunion wurden durch den Westen ebenso beeinflußt, wie sie ihrerseits den Westen beeinflußten. Je mehr westliche Mächte im Zeitalter des Imperialismus die übrige Welt ihrer formellen oder informellen Herrschaft unterwarfen, desto mehr müssen auch diese anderen Teile der Erde ins Blickfeld rücken. Eine «Globalgeschichte» erwächst daraus aber nicht, höchstens ein Beitrag zu einer solchen.
    Als Max Weber 1920 seine berühmte Vorbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie verfaßte, arbeitete er bestimmte Kulturerscheinungen heraus, die er nur im Okzident vorfand und als typisch westlich charakterisierte: eine empirisch vorgehende Wissenschaft, die rationale harmonische Musik, den strengen Schematismus des okzidentalen Rechts, das Fachmenschentum, die schrankenlose Erwerbsgier des modernen Kapitalismus, die Trennung von Haushalt und Betrieb, die rationale Buchführung, das abendländische Bürgertum, die Organisation freier Arbeit und die Entstehung eines rationalen Sozialismus. Der gemeinsame Nenner war der spezifisch okzidentale Rationalismus, der sich in einer praktisch-rationalen, namentlich in einer wirtschaftlich rationalen Lebensführung niederschlug.[ 6 ]
    Webers Analyse erfaßte bestimmte Facetten des Modernisierungsprozesses, den alle von Industrie und Bürokratie geprägten Gesellschaften des Westens durchlaufen hatten und zum Teil noch durchliefen. Von den normativen und politischen Errungenschaften des Westens aber war bei ihm bemerkenswerterweise nicht die Rede: weder von den Menschen- und Bürgerrechten noch von der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität oder der repräsentativen Demokratie. Diese Kulturerscheinungen bildeten nach Webers Meinung offenbar keine typischen Merkmale des Okzidents – eine sehr deutsche und damals schon nicht mehr zeitgemäße Sichtweise. Heute gibt es erst recht gute Gründe, die Entwicklung der normativen Maßstäbe, einer selbstkritischen politischen Kultur und einer pluralistischen Zivilgesellschaft in den Mittelpunkt einer Geschichte des Westens zu rücken. Das geschieht in dieser Darstellung, während manche andere der von Weber aufgeführten Kulturerscheinungen in den Hintergrund treten. Die Entscheidung für eine Problem- und Diskursgeschichte erfordert eine Schwerpunktbildung, deren notwendiges Gegenstück mehr oder minder weitgehende Ausblendungen sind.
    Der vorliegende Band endet mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Dieser Krieg, der bis dahin furchtbarste Zusammenstoß nationaler Antagonismen, revolutionierte das internationale Staatensystem mehr noch als die Gesellschaften. Der alte europäische Westen als ganzer ging aus dieser blutigen Auseinandersetzung geschwächt, der neue amerikanische Westen gestärkt hervor. Gemeinsam wurde der Westen seit 1917 durch eine Macht herausgefordert, die dem Krieg ihre Entstehung verdankte: die Sowjetunion. Zu ihrem schärfsten Antipoden entwickelte sich nach 1933 das nationalsozialistische Deutschland, das durch seine nach allen Seiten gerichtete Aggressivität Ost und West zu einer Koalition gegen sich und seine
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