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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Heinrich August Winkler
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Staat zusammengeschlossenen Gebiete) oder Ungarn «Osteuropa» zuzurechnen; «Mitteleuropa» oder, genauer, «Ostmitteleuropa» waren und sind die zutreffenden Bezeichnungen. Der Begriff «Osteuropa» war Rußland bis zum Ural, Weißrußland und der Ukraine vorbehalten. Historisch gehören das östliche Mitteleuropa, das Baltikum und der Westen der Ukraine zum «Okzident» oder «Abendland», also zu jenem Teil des Kontinents, der seinen gemeinsamen geistlichen Mittelpunkt bis zur Reformation in Rom gehabt hatte und der sich eben dadurch vom orthodox geprägten Ost- und Südosteuropa unterschied. Es ist dieser historische Westen, der im Mittelpunkt unserer Betrachtung steht.
    «Europa ist nicht (allein) der Westen. Der Westen geht über Europa hinaus. Aber: Europa geht auch über den Westen hinaus»: Auf diese knappe Formel hat der Wiener Historiker Gerald Stourzh das Verhältnis zwischen Europa und dem Westen gebracht.[ 4 ] Was den außereuropäischen Teil des Westens betrifft, so gehören unstrittig die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien und Neuseeland, also die ganz oder überwiegend englischsprachigen Demokratien, und, seit seiner Gründung im Jahr 1948, der Staat Israel dazu. In Europa liegen die Dinge komplizierter. Die Frage, wie es dazu kam, daß nicht ganz Europa dem Westen zuzurechnen ist, führt zurück in die Zeit, die der historischen Spaltung in eine West- und eine Ostkirche vorausging. Diese Frage ist nicht bloß von historischem Interesse. Denn sie zielt auf kulturelle Prägungen, die Europa einmal verbunden haben und von denen noch vieles nachwirkt.
    Die stärkste dieser gemeinsamen Prägungen ist religiöser Natur: die christliche. Im Zuge der fortschreitenden Entkirchlichung und Entchristlichung Europas ist eine solche Feststellung alles andere als selbstverständlich. Erklärten Laizisten könnte sie sogar als ein Versuch erscheinen, die Säkularisierung in Frage zu stellen und ihr Einhalt zu gebieten. In Wirklichkeit ist es gerade der spezifische, ja weltgeschichtlich einzigartige Charakter des westlichen Säkularisierungsprozesses, der uns veranlassen sollte, den religiösen Bedingungen dieser Entwicklung nachzugehen.
    Vom christlichen Erbe Europas und des Westens läßt sich aber nicht sinnvoll reden, wenn wir nicht zuvor vom jüdischen Erbe des Christentums gesprochen haben. Zum jüdischen Erbe gehört zentral der Monotheismus. Dieser hat eine Vorgeschichte, die über das Judentum hinausweist: in das Ägypten des 14. Jahrhunderts vor Christus. Mit der Entstehung des Monotheismus müssen wir also einsetzen, wenn wir wissen wollen, wie der Westen zu dem wurde, was er heute ist. Von diesem Ausgangspunkt gilt es fortzuschreiten zu jener spezifisch christlichen Unterscheidung zwischen göttlicher und weltlicher Ordnung, in der die Säkularisierung der Welt und die Emanzipation des Menschen bereits angelegt sind. Der klassische Beleg dieser Unterscheidung ist das Wort von Jesus: «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.»[ 5 ]
    Von diesem Aufruf bis zur ansatzweisen Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt im Investiturstreit des späten 11. und frühen 12. Jahrhunderts verging über ein Jahrtausend. Die Unterscheidung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt erscheint im historischen Rückblick als Keimzelle der Gewaltenteilung überhaupt, als Freisetzung von Kräften, die sich erst durch diese Trennung voll entfalten und weiter ausdifferenzieren konnten. Der ersten Gewaltenteilung folgte, beginnend mit der englischen Magna Charta von 1215, eine zweite: die Trennung von fürstlicher und ständischer Gewalt, wobei die letztere in der Folgezeit von Adel, Geistlichkeit und städtischem Bürgertum ausgeübt wurde. Beide mittelalterlichen Gewaltenteilungen blieben auf den Raum der Westkirche beschränkt. Im Bereich der Ostkirche fehlte der Dualismus zwischen Papst und Kaiser beziehungsweise König; die geistliche Gewalt blieb der weltlichen untergeordnet; es gab keine Trennung von fürstlicher und ständischer Gewalt; es entwickelte sich, anders als im Westen, kein wechselseitiges Treueverhältnis zwischen Landesherr und Feudaladel, keine Stadtfreiheit und kein selbstbewußtes städtisches Bürgertum und infolgedessen auch keine Tradition individueller und korporativer Freiheit.
    Die Geschichte des Westens ist keine Geschichte des ununterbrochenen Fortschritts in Richtung auf mehr Freiheit. Die Reformation des 16. Jahrhunderts brachte einerseits einen gewaltigen
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