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Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Geschichte der deutschen Wiedervereinigung

Titel: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
Autoren: Andreas Rödder
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wurden grundsätzlich vier Optionen vorgebracht: Eine eigenständige, reformierte DDR als «sozialistische Alternative zur Bundesrepublik», wie sie weite Kreise der Oppositionsbewegung wünschten, hätte sicher eine freiheitliche Demokratie werden können. Aber sie hätte die materiellen Ziele verfehlt und wäre wirtschaftlich kaum lebensfähig gewesen, wie überhaupt die ökonomische Dimension nicht wirklich im Blickfeld der Oppositionsbewegung lag. Die Folge wäre eine weitere Massenabwanderung gewesen, und unabhängig davon sprach sich auch die Mehrheit der Ostdeutschen gegen eine solche eigenstaatliche Lösung aus – was auch für die weiteren Alternativen gilt.
    Ganz aus der ökonomischen Räson geboren war demgegenüber die zweite Option, die von westdeutschen Wirtschaftsexperten vertreten wurde. Insbesondere der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der die problematischen Auswirkungen einer schnellen Währungsunion zutreffend prognostizierte, plädierte für eine sukzessive wirtschaftliche Angleichung der DDR-Wirtschaft an die Bundesrepublik, die mit einem schrittweisen Übergang zur staatlichen Einheit koordiniert werden sollte. Dies war jedoch ohne die gesellschaftlich-politischen Bedingungen gedacht. Eine solche Stabilisierungs- und Angleichungspolitik hätte nämlich einen geschlossenen Wirtschaftraum vorausgesetzt, in dem das Lohnniveau bei einem Bruchteil des westdeutschen gelegen hätte. Dieser wäre jedoch von vornherein durch die bundesdeutsche Exit-Option der Ostdeutschen durchlöchert gewesen, und auch in diesem Falle wäre der Übersiedlerstrom nicht zu stoppen gewesen, im Gegenteil: Mit dem Satz «Kommt die D-Mark, bleiben wir – kommt sie nicht, gehn wir zu ihr» makulierte die gesellschaftliche Realität die ökonomische Theorie.
    Eine dritte Option stammte vom sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten von 1990, Oskar Lafontaine, der Kohls zu optimistische Annahmen scharf kritisierte. Lafontaines Alternative sah einen aktuellen Verzicht auf eine schnelle Währungsunion und die Integration einer staatlichen Einheit in eine spätere europäische Lösung vor. Der DDR sollten vielmehr zunächst, im Rahmen des für die westdeutschen Wähler Akzeptablen, voraussetzungslose Finanzhilfen zur Verfügung gestellt werden, um damit soziale Leistungen zu ermöglichen. Deren Rahmen wäre wohl weit enger gezogen gewesen als der Umfang der innerhalb des gemeinsamen Staates tatsächlich erbrachten Transfers. Zudem wären auf diese Weise unproduktive Strukturen in der DDR nur weiter subventioniert worden, so dass dieser Option nicht nur die westdeutsche Akzeptanz, sondern auch die ökonomische Perspektive gefehlt hätte.
    Das galt schließlich auch für Hans Modrows Forderung nach einem bundesdeutschen Solidarbeitrag in Höhe von 10 bis 15 Milliarden D-Mark, der die DDR ökonomisch stabilisieren und ihr einen gleichberechtigten Eintritt in die Wiedervereinigung ermöglichen sollte. Angesichts der schließlich erbrachten Summen und angesichts des Zustands, in dem sich die Wirtschaft der DDR befand, war diese Vorstellung illusorisch. Unter den gegebenen Bedingungen der offenen Grenzen war selbst mit bundesdeutscher Hilfe eine ökonomische Stabilisierung der DDR aus eigener Kraft (und ein Stoppen der Massenabwanderung) gar nicht mehr möglich.
    Keine der vorgeschlagenen Alternativen hat hinreichend plausibel machen können, wie der Prozess der deutschen Einheit und der marktwirtschaftlichen Transformation der DDR auf eine politisch realisierbare Weise mit signifikant geringerer Arbeitslosigkeit, ohne Absturz durch Deindustrialisierung, unter Aufbau selbsttragender ökonomischer Strukturen und mit deutlich geringeren finanziellen Belastungen hätte gestaltet werden können. Alles in allem eröffneten sich in diesem gewaltigen Transformationsprozess mit seiner komplexen Ausgangslage weniger konstruktive Alternativen als vielmehr unausweichliche Dilemmata: zwischen ökonomischer Vernunft und sozialerZumutbarkeit, zwischen juristischer Norm und historischer Realität, zwischen Recht und Moral, zwischen Aufarbeitung der Vergangenheit und Befriedung der Gegenwart. Immer wieder blieb, wie Lothar de Maizière resümierte, «nur die Wahl zwischen zwei schlechten Lösungen».
    Institutionell gab es im Grundsatz keine tragfähige Alternative zur schnellen Einheit nach westdeutschem Muster. Nicht in der faktischen Unumgänglichkeit der grundsätzlichen Entscheidungen lag das zentrale
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