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Gesammelte Werke 1

Titel: Gesammelte Werke 1
Autoren: Strugatzki Boris
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Atomkrieg gewütet hat (»Die bewohnte Insel«). Sie selbst kommen schließlich von einer glücklichen, wohlgeordneten Erde der Zukunft. Diese Zukunftswelt war als kommunistisch gedacht, und das aus drei guten Gründen: Erstens hätten sich die Strugatzkis, aufgewachsen mit Ideologie und Propaganda der Stalinzeit und inspiriert von der Aufbruchstimmung unter Chruschtschow, in den frühen 1960er Jahren anderes gar nicht vorstellen können; zweitens hätten sie anderes in der Sowjetunion natürlich auch nicht schreiben und veröffentlichen dürfen; drittens schließlich (und vor allem) war der Kommunismus, obwohl er unablässig dialektischen Materialismus predigte, de facto die idealistischere Gesellschaftsordnung: Obwohl die Marxsche Theorie darüber so gut wie nichts sagt, haben in der Praxis alle sozialistischen/kommunistischen Staaten versucht, einen »Neuen Menschen« zu erziehen - teils ernsthaft, teils (in den späteren Stadien) nur vorgeblich. Während man bei Marx den deutlichen Eindruck gewinnt, mit der Machtergreifung der Arbeiterklasse werde sich alles andere von selbst finden, ist die Welt des »Mittags« vor allem eine Erziehungsutopie,
in der die wichtigste, verantwortungsvollste Rolle den Lehrern und Ausbildern zukommt (einen Widerschein davon sieht man in »Ein Käfer im Ameisenhaufen«).
    Am detailliertesten ausgemalt ist das Bild dieser Zukunft in »Mittag, 22. Jahrhundert«; doch auch in den Romanen, die auf fremden Planeten spielen, ist es als Hintergrund der dort agierenden Erdenmenschen immer gegenwärtig, so etwa, wenn Maxim Kammerer die Verhältnisse auf dem Saraksch anfangs völlig falsch interpretiert, weil er sich etwas anders als seine wohlgeordnete Erde (und die ebenso gut eingerichteten Planeten der Leonidaner und Tagoraner, mit denen man Kontakt von gleich zu gleich hat) gar nicht oder doch nur abstrakttheoretisch aus dem Geschichtsunterricht vorstellen kann. (Ein wenig machen sich die Strugatzkis hier wohl auch über die Naivität und Weltfremdheit des jungen Mannes lustig, die etwas sehr Sowjetisches hat.) Als der Schwerpunkt der Handlung dann jedoch in den späten Romanen des Zyklus - »Der Junge aus der Hölle«, »Ein Käfer im Ameisenhaufen« und »Die Wellen ersticken den Wind« - auf die Erde zurückkehrt, wird der Leser gewahr, dass der Eindruck, den diese Welt vermittelt, sich mittlerweile gravierend gewandelt hat. Ihre Konstitution und die grundlegenden Lebensmaximen sind unverändert, die materiellen Möglichkeiten sogar noch gewachsen und weniger denn je Anlass zu Konflikten. Doch die Zukunft wird, je weiter sie (in der Regel parallel zum Entstehungsdatum der Werke) fortschreitet, immer diffiziler, problematischer, in ihren Institutionen wie auch in der Mentalität ihrer Bewohner der Gegenwart immer ähnlicher: So tauchen auf einmal mitten im weltweiten Kommunismus Religionen auf und werden als etwas völlig Normales wahrgenommen (wozu sich die Sowjetunion erst kurz vor ihrem Zerfall halbwegs durchringen konnte), außerdem so erfreuliche Dinge wie Bürgerbewegungen (freilich ohne dieses westliche Wort) und so unerfreuliche wie ein nach innen wirkender Geheimdienst.

    Kein Wunder - nicht nur in der Romanwelt ist Zeit vergangen, auch die Welt, in der die Strugatzkis lebten, hatte sich in einem Vierteljahrhundert verändert, und mehr noch die Haltung der Autoren zu dieser Welt, zu ihrer Gegenwart und zu ihren möglichen Zukünften. Im Mai 2199, anderthalb Jahre vor dem Ende des 22. Jahrhunderts, stürzt die »Große Offenbarung« die Welt des »Mittags« schließlich in eine Sinnkrise. Das Hauptproblem ist dabei jedoch nicht das Auftauchen der Übermenschen oder die Frage, wie man die Beziehungen zu ihnen gestalten soll - es geht vielmehr um einen krassen Wechsel in der Perspektive, die sich der Menschheit bietet. Eben noch wusste man sich auf einem zwar schwierigen, doch geradlinigen und praktisch endlosen Weg in eine Zukunft, in der der Mensch immer mächtiger und zugleich menschlicher wird; nun erscheinen diese beiden Eigenschaften entkoppelt, der Homo sapiens findet sich auf einem von der Hauptstraße abzweigenden Seitenpfad wieder. Und was am quälendsten ist: Er hat keine Ahnung, was auf jener Hauptstraße wirklich vorgeht, und wird es, solange er Mensch bleibt, auch nie erfahren.
    Die Utopie des »Mittags« war von Anfang an als eine sich entwickelnde, fortschreitende Welt angelegt. Dies entsprach dem Lebensgefühl der sowjetischen Intelligenz in den frühen 1960er
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