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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition)
Autoren: Harald Gilbers
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ausgeliefert war. Nur ganz langsam wagte Oppenheimer, sich Vogler zuzuwenden. Doch dieser hatte nicht ihn im Visier, sondern blickte nur auf die Leiche.
    »Niemand wird erfahren, dass Johannes Lutzow an den Taten beteiligt war«, murmelte der Hauptsturmführer. Seine Stimme klang eigentümlich heiser. »Überrascht Sie das, Oppenheimer?«
    Dieser musste schlucken, bevor er antworten konnte. »Ich hatte mir schon so etwas gedacht.«
    »Morgen früh wird es auch keine Anzeichen mehr dafür geben, dass er jemals existiert hat, dieses Gebäude hier wird nicht mehr stehen. Niemand wird sich daran erinnern.«
    Oppenheimer war sich im Klaren darüber, was Vogler damit sagen wollte. Er war ein Mitwisser, der zum Schweigen gebracht werden musste. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Schweigend beobachtete er, wie Vogler auf irgendetwas in ihrer Umgebung zielte. Den Glimmstengel zwischen seinen Lippen hatte Oppenheimer vergessen. Panisch suchte er nach einem Ausweg, einer Fluchtmöglichkeit. Erst jetzt fiel ihm auf, wie hell es war. Diese verfluchte Lampe über dem Eingang! Es gab keine Chance, in die Dunkelheit abzutauchen. Oppenheimer schätzte die Entfernung zum Lastwagen ab, die Distanz zu den nächsten Bäumen, doch alles war zu weit entfernt. Wenn er jetzt einfach losrannte, konnte Vogler ihn mit einem Blattschuss erledigen.
    Als Oppenheimer wieder zum Hauptsturmführer hinübersah, hatte sich dessen Stimmung verändert. Ein verwegenes Grinsen war auf Voglers Gesicht getreten. Er wirkte wie jemand, der sich über einen Witz amüsierte, den nur er selbst verstand. Er schloss kurz die Augen, dann ließ er die Waffe sinken. »Es ist besser für Sie, wenn Sie nicht mehr zur Kameradschaftssiedlung zurückkehren. Und im Judenhaus lassen Sie sich besser auch nicht mehr blicken. Man wird Sie bereits suchen. Reithermann, dieses fette Schwein, wird Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Sie zu erwischen. Und bitte, machen Sie nicht den Fehler, auf mich zu schießen. Ich kann schneller ziehen.« Damit warf Vogler seine halb gerauchte Zigarette fort und stieß einen letzten Rauchschwall in die Nachtluft. »Diese Unterhaltung hat nicht stattgefunden. Das war’s wohl, Herr Kommissar.«
    Verblüfft blickte Oppenheimer den Hauptsturmführer an. Warum verschonte er ihn? Waren Hildes düstere Andeutungen letzten Endes unberechtigt? Hatte sich Oppenheimer doch nicht geirrt? War Vogler zu mehr als blindem Gehorsam fähig? Oppenheimer verstand Voglers Äußerung als Aufforderung, sich zu entfernen. Also räusperte er sich verlegen und wandte sich zum Gehen.
    Er war nur wenige Schritte weit gekommen, als Vogler sagte: »Oppenheimer?«
    Der Hauptsturmführer trat heran und reichte ihm einen kleinen, länglichen Metallzylinder. Überrascht musterte Oppenheimer den Gegenstand.
    »Eine Zyankalikapsel«, erklärte Vogler. »Ich schätze, Sie werden sie nötiger haben als ich.«

    Unter der Sichel des zunehmenden Mondes lag ganz Berlin vor ihm ausgebreitet. Die klare Luft wirkte wie ein Vergrößerungsglas, ließ die Entfernungen schrumpfen. Oppenheimer glaubte fast, die nahe gelegenen Gebäude mit der Hand berühren zu können. In dieser Nacht verlieh das grünlich-fahle Licht des brennenden Phosphors der Stadt eine geisterhafte Aura.
    Nur wenige Minuten nachdem Oppenheimer sich von Vogler verabschiedet hatte, war wieder das alte Misstrauen zurückgekehrt. Die Einsicht, dass er jetzt vogelfrei war, ließ ihn vorsichtig werden. Ihm war der Gedanke gekommen, dass Vogler ihn vielleicht nur deswegen laufenlassen hatte, um sich nicht selbst die Hände schmutzig zu machen. Oppenheimer wusste, dass Voglers Leute wahrscheinlich unten am Fuß des Hügels auf ihn warteten, falls der Hauptsturmführer wirklich darauf aus war, ihn nicht davonkommen zu lassen. Doch es gab noch eine andere Alternative, als zum Müggelheimer Damm zurückzukehren. Zwar war dieser andere Weg den Hügel hinab ein wenig beschwerlicher, hatte jedoch den Vorteil, dass er genau in die entgegengesetzte Richtung führte. Oppenheimer kannte den Weg genau, so dass er sich sogar in der Nacht orientieren konnte. Er musste nur dem Hügelkamm nach Westen folgen, bis er schließlich zum Aussichtsturm auf dem Kleinen Müggelberg gelangte. Von dort konnte er einfach auf der südlichen Seite des Hügels die Treppe zum Langer See hinabsteigen und versuchen, sich am Ufer entlang nach Köpenick durchzuschlagen.
    Doch anstatt den Abstieg über die 374 Stufen zu wählen, hatte er sich dafür
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