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Germania: Roman (German Edition)

Germania: Roman (German Edition)

Titel: Germania: Roman (German Edition)
Autoren: Harald Gilbers
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entschieden, sich zuvor noch im Schutz der Dunkelheit zur Terrasse des Wirtshaus Müggelturm zu schleichen. Bevor er in den Höllenkessel zurückkehrte, schien es sinnvoll, sich zunächst einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Zwar war das Panorama am äußeren Ende der Terrasse nicht so imposant wie von dem kostenpflichtigen Aussichtsturm aus, doch es erwies sich als ausreichend beeindruckend, um Oppenheimers Atem stocken zu lassen.
    Aus dieser Perspektive schien es kaum vorstellbar, dass in der Stadt noch Leben existieren konnte. Und doch wusste Oppenheimer, dass Millionen Menschen irgendwo in der Tiefe Schutz gesucht hatten. In einem Ring um die Stadt ragten die Lichtkegel der Flakscheinwerfer wie transparente Spinnenbeine in die Höhe und glitten langsam über den Himmel. Denn dort droben war noch etwas anderes. Direkt über der Stadt hingen die mit Explosivstoffen befüllten Leiber der Flugzeuge wie an einem Mobile. Grelle Flakschüsse wurden in den Himmel gespien, Bomben fielen mit einem pfeifenden Geräusch zu Boden. Dies war kein großer, minutiös geplanter Angriff, sondern einer der üblichen Moskitoangriffe im Schutz der Nacht. Und doch wurde genügend Zerstörungskraft freigesetzt, um Hunderte Leben auszulöschen.
    Immer wieder zuckten blaue Blitze empor. Sirrend detonierte ein Phosphorkanister, versengte mit seinem heißen Atem die Straßen. Gebannt lehnte sich Oppenheimer gegen das Geländer und beobachtete das Geschehen. Es war eine geradezu obszöne Perspektive, die sich ihm hier von seinem Logenplatz aus bot, aber er wusste, dass er nicht mehr länger verweilen durfte. Schließlich musste er zu Lisa, musste ihr beistehen, ihr versichern, dass er noch am Leben war. Und dennoch ließ ihn etwas zögern.
    Oppenheimer registrierte, dass er unwillkürlich seine Hand auf die Brusttasche gelegt hatte. Unter dem Stoff spürte er den harten Gegenstand aus Metall, den ihm Vogler gegeben hatte. Neugierig zog er den Zylinder aus der Tasche und schraubte den Deckel ab. Die Giftkapsel war transparent, schmal und vielleicht zwei bis drei Zentimeter lang. Ideal, um sie im Mund zu verstecken und zu zerbeißen, falls es die Umstände erfordern sollten. Oppenheimer hielt sie ins Mondlicht. Der pockennarbige Erdtrabant verlieh der klaren Flüssigkeit einen verführerischen Glanz. Er konnte seinen Blick kaum losreißen.
    Und dann spürte er noch ein gänzlich anderes Gefühl: Eine unerklärliche Gelassenheit erfüllte Oppenheimer. Er brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass dies keine chemische Reaktion seines Körpers auf die Pervitin-Tabletten war. Vielmehr erkannte er, dass die Giftkapsel dafür verantwortlich war.
    Es war merkwürdig, doch als Oppenheimer das Mittel betrachtete, mit dem er den Freitod wählen konnte, fühlte er sich so lebendig wie selten zuvor. Mit dieser Kapsel hatte er die Macht, selbst über sein Ende zu bestimmen. Kein Gestapo-Beamter oder sonst ein nationalsozialistischer Schreihals konnte ihn mehr einschüchtern. Sie konnten ihm nichts mehr antun. Jetzt war er wieder Herr über sein eigenes Schicksal, und dieser Gedanke machte ihm Mut. Er fragte sich, was Vogler wohl damit bezweckt hatte, ihm das Gift zu geben. War es vielleicht ein unausgesprochener Befehl, sich das Leben zu nehmen? Oder war es etwa seine verquere Art und Weise, ihm seine Wertschätzung zu zeigen, ein Anflug von Menschlichkeit, weil Vogler immer noch mit Hitlers Sieg rechnete? Oppenheimer konnte so lange darüber nachdenken, wie er wollte – es blieb ein Rätsel. Nur eines war klar, diese Giftkapsel würde von nun an sein kostbarster Besitz sein.

Nachwort
    D ie Handlung von Germania ist zwar fiktiv, aber das von mir beschriebene Umfeld ist es nicht. Ich habe mich beim Verfassen des Romans bemüht, eine retrospektive Einordnung der damaligen Geschehnisse möglichst zu unterlassen, da ich vor allem darstellen wollte, wie die Berliner Bevölkerung jene bewegten Tage im Frühsommer 1944 erlebt hat, ohne Gewissheit über den Ausgang der Kriegshandlungen zu haben.
    Ein wichtiges Gestaltungselement war für mich die genaue Definition des Zeitrahmens. Ohne die Auswertung von historischen Primärquellen wäre es mir nicht möglich gewesen, die Ereignisse in Berlin und Umgebung jenseits der geschönten Zeitungsberichte auf den Tag genau zu rekonstruieren. Von unschätzbarem Wert waren für mich dabei insbesondere die Tagebuchaufzeichnungen von Ruth Andreas-Friedrich, Victor Klemperer, Wasyl Timofejewitsch Kudrenko, Ursula
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