Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geraubte Erinnerung

Geraubte Erinnerung

Titel: Geraubte Erinnerung
Autoren: Greg Iles
Vom Netzwerk:
ein Kaninchenkopf mit einem Zifferblatt als Gesicht. The White Rabbit, ein liebevoller Spitzname, den Fielding von seinen Physikstudenten in Cambridge erhalten hatte. Fielding trug stets eine goldene Taschenuhr bei sich; sie war »das kleine goldene Ding«, das ich vor einiger Zeit einmal für ihn verwahrt hatte.
    Wir waren uns im Flur begegnet, als er mir die Uhr mitsamt Kette in die Hand gedrückt hatte. »Was dagegen, kurze Zeit darauf aufzupassen, alter Mann?«, hatte er gemurmelt. »Nein? Danke, nett von dir.« Dann war er verschwunden. Eine Stunde später war er zu mir ins Büro gekommen, um die Uhr wieder abzuholen. Auf meine Frage erwiderte er, er hätte die Uhr nicht mit ins MRI-Labor nehmen wollen, wo die immens starken Magnetfelder des Resonanzspektroskops sie vielleicht beschädigen konnten. Doch Fielding war ständig im MRI Lab und hatte mir vorher noch nie seine goldene Taschenuhr anvertraut. Und er hatte es danach auch nie wieder getan. Sie musste in seiner Tasche gewesen sein, als er gestorben war. Was zur Hölle hatte er an jenem Tag gemacht?
    Ich las den Brief erneut. Lu Li und ich fahren Samstagabend zu der blauen Stelle. Lu Li war Fieldings neue chinesische Frau. Die »blaue Stelle« musste ein Kode für eine Strandhütte beim Nags Head sein, auf den Outer Banks von North Carolina. Vor drei Monaten hatte Fielding mich um eine Empfehlung gebeten, wo er seine Flitterwochen verbringen könne, und ich hatte ihm die Strandhütte beim Nags Head vorgeschlagen, nur wenige Stunden Fahrt von hier. Fielding und seine Frau waren sehr angetan gewesen von der Hütte – und der Engländer hatte offensichtlich genau daran gedacht, als er einen sicheren Ort gesucht hatte, um mit mir über seine Befürchtungen zu sprechen.
    Meine Hände zitterten. Der Mann, der diesen Brief geschrieben hatte, war inzwischen so kalt wie der Tisch des Leichenbeschauers, auf dem er lag – falls er bei einem Leichenbeschauer lag. Niemand war imstande oder willens gewesen, mir zu verraten, wohin man den Leichnam meines Freundes bringen würde. Und nun das weiße Pulver. Hätte Fielding Pulver in den Umschlag getan und vergessen, es zu erwähnen? Und falls er es nicht gewesen war, wer dann? Wer außer der Person, die ihn ermordet hatte?
    Ich legte den Brief aufs Sofa, streifte die Latexhandschuhe ab und spulte das Videoband zu der Stelle zurück, an der ich ausdem Bild verschwunden war. Ich hatte beschlossen, dieses Band aufzuzeichnen, weil ich befürchtete, dass man mich ebenfalls töten würde, bevor ich dem Präsidenten berichten konnte, was ich wusste. Fieldings Brief hatte daran nichts geändert. Und doch schweiften nun meine Gedanken ab, als ich in die Linse starrte. Ich war bereits viel weiter, als Fielding vorgeschlagen hatte, indem er meinte, ich sollte den Freund meines toten Bruders anrufen. In dem Augenblick, in dem ich Fieldings Leiche auf dem Boden gesehen hatte, war mir bewusst gewesen, dass ich den Präsidenten informieren musste. Doch der Präsident war in China. Trotzdem hatte ich, sobald das Trinity Lab hinter mir lag, von einem Münztelefon von einem Shoney’s Restaurant aus im Weißen Haus angerufen, einem »sicheren« Apparat, von dem Fielding mir erzählt hatte. Die Überwachungsteams draußen in den Wagen konnten ihn nicht sehen, und die Architektur des Restaurants machte es für ein Richtmikrofon praktisch unmöglich, aus der Entfernung ein Gespräch zu belauschen.
    Als ich »Project Trinity« sagte, stellte mich der Operator im Weißen Haus sofort zu einem Mann durch, der mich schroff aufforderte, meinen Wunsch vorzubringen. Ich fragte nach Ewan McCaskell, dem Stabschef des Präsidenten, den ich während meines Besuchs im Oval Office kennen gelernt hatte. McCaskell war zusammen mit dem Präsidenten in China. Ich bat darum, dem Präsidenten auszurichten, dass David Tennant ihn dringend wegen Project Trinity sprechen müsse, und machte eindringlich klar, dass niemand, der an Project Trinity mitarbeitete, über meinen Anruf informiert werden dürfte. Der Mann sagte, meine Nachricht würde weitergegeben, und legte auf.
    Zwischen North Carolina und Beijing lagen dreizehn Stunden Zeitunterschied. Das bedeutete, dass in China bereits ein neuer Tag angebrochen war. Helllichter Tag. Und doch waren seit meinem Anruf vier Stunden vergangen, und ich hatte noch nichts gehört. War meine Nachricht angesichts der kritischen Natur des Gipfeltreffens überhaupt nach China weitergeleitet worden? Ich hatte keine Möglichkeit,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher