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Gemischte Gefühle

Gemischte Gefühle

Titel: Gemischte Gefühle
Autoren: Ronald M. Hahn
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Irrealität der Situation. Bis gestern hatte das Jahr 1996 nichts Weltbewegendes für mich gebracht. Zu Hause in Deutschland und in den USA wurde mal wieder gewählt, ich hatte einen prima Job und war rundum glücklich.
    Und jetzt saß ich hier, in einem künstlichen englischen Dorf auf einer Insel in der Sulu-See, mit einer Leiche in einem von Nebelschwaden durchzogenen Pfarrhaus, und der Tod schaute mir reichlich belämmert über die Schulter. Der Zauberlehrling in den Trümmern seines Werkes.
    Madame Zagorski kam mit einer Flasche aus dem Kaminzimmer gewankt.
    „Is’ was?“
    Ich lachte und lachte und lachte.
    Wie war ich bloß in diesen Wahnsinn geschlittert?
     
Oh islands in the sun
     
    Heute morgen sah alles noch ganz harmlos aus. Ich lag im Bett und freute mich auf den kommenden Tag. Es würde wieder ein guter Tag werden – wie immer. Ich hatte nur Routinejobs vor mir, und was sollte hier auch Außergewöhnliches passieren?
    Die Sonne schien schon durch die weit geöffneten Fenster und kitzelte auf meiner Nase. Vom Strand herauf kamen die Klänge einer Steelband. Es rasselte und schepperte und dröhnte und swingte und fuhr mir in die Glieder. Ich warf die Bettdecke von mir und latschte unbekümmert auf den Balkon hinaus; über einen nackten Mann auf dem Balkon regte sich hier in Ibiza niemand auf.
    Ich bin ein abgebrühter Bursche, aber mein Herz machte trotzdem wieder einen Sprung, als ich mich umschaute. Es war einfach zu schön. Es war alles, was man von einem morgendlichen Blick vom Hotelbalkon erwarten konnte. Es war Urlaub, Sunshine, Happiness, blauer Himmel, weißer Strand, nette Girls, Palmen, gute Musik, ein Frühstücksbuffet. Alles war da, was einem das Leben nur bieten konnte, herausdestilliert, idealtypisch. Wow!
    Eine Beach Party tobte vor sich hin. Keine Ahnung, ob sie gerade angefangen hatte oder ob sie die letzte Nacht überlebt hatte – oder die vorletzte. Rotwein, Weißbrot und Amphetamine kreisten. Über einem Lagerfeuer drehte sich ein Braten. Der Duft stieg mir bis hier herauf in die Nase. Wildschwein. Die Leute mußten Geld haben.
    Und darüber hämmerte der Rhythmus der Steelband. Er ging ins Blut; hier stimmte die alberne Floskel wirklich. Fast alle tanzten. Und wie sie tanzten! Sie wußten wirklich, wie man sich bewegt. Freizeit-Profis. Sie hatten keine Ahnung, was Hedonismus ist, aber sie hatten’s voll begriffen.
    Blanke Busen wippten graziös auf und ab, in Amplituden, Sinuskurven, Kegelschnitten, kontrolliert, immer im Takt. Ah, ihr herrlichen, runden Metronome, ich liebe euch! Und auch euch liebe ich, ihr knackig braunen, schimmernden Göttinnen des Sonnenkults, animalisch dösend auf euren Liegen vorn am Strand!
    Stop it, Mann. Ich muß wirklich aufpassen, daß mir der Gaul nicht durchgeht. Aber ist es ein Wunder, daß ich wie besoffen bin vor Glück? Jeden Morgen genieße ich diesen Anblick. Jeden Morgen freue ich mich, daß ich hier arbeiten kann. Jeden Morgen freue ich mich, daß ich es schon mit Einunddreißig zum Social Relations Supervisor des größten Ferienzentrums der Welt gebracht habe. Ein Traumjob! Manchmal beneide ich mich selbst.
    Einen Reggae pfeifend, ging ich ins Badezimmer und schaltete unterwegs das Video an. Während ich mich duschte, hörte ich mit halbem Ohr auf das heutige Veranstaltungsprogramm, das im Kabelfernsehen durchgegeben wurde. War ein unheimlicher Erfolg, diese Programmvorschau. Einfach Kanal 6 einschalten, und schon sah man in unirdisch schönen Filmszenen, was heute alles geboten wurde. Jeder fühlte sich informiert, umfassend betreut und hatte nicht dauernd das Gefühl, was zu verpassen. Eine prima Sache, und das Schönste daran war: Die Idee war von mir. Number one!
    Ich bruzzelte so richtig in meiner Zufriedenheit, als ich meine Ausrüstung zusammenstellte: einen transportablen Mini-Videorecorder mit integrierter Kamera, eine Polaroid Terminal. Der Datenfluß war die geheime Schlagader unseres Urlaubsparadieses. Daten waren so wichtig wie Luft und Wasser, ohne sie lief nichts.
    Die Ausrüstung steckte ich – immer lässig bleiben! – in eine Tennistasche. Ich zog weiße Leinenjeans und blau-weiße Jogging-Boots an und schlüpfte in ein T-Shirt mit der Aufschrift IF IT’S FUN, DO IT! Sonnenbrille noch auf die Nase, und es konnte losgehen.
    Unten auf der Straße war schon High Life. Muskulöse Sportsfreunde trugen ihre Surfbretter vorbei, in den Boutiquen wurde fleißig gekauft (recht so!), Rollschuhfahrer flitzten vorbei, in den
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