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Geliebte Myriam, geliebte Lydia

Geliebte Myriam, geliebte Lydia

Titel: Geliebte Myriam, geliebte Lydia
Autoren: Karl Plepelits
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zu plaudern und sich gegenseitig noch mehr zu erzählen, Dinge, die man vor der ganzen Versammlung vielleicht nicht aussprechen wollte. Es handelt sich nämlich bei diesen dreien um ehemals unzertrennliche Freunde, und sie fühlen in ihrem Innersten, wie sich das Band der Freundschaft nach so langer Zeit der Trennung wieder neu belebt hat. Und so ist es sicherlich leicht verständlich, daß sie sich mit der eben gehörten offiziellen Version der Lebensgeschichten nicht ganz zufrieden geben und nach weiterem und vor allem intimerem Gedankenaustausch lechzen.
    Wer sind sie denn nun eigentlich, unsere drei alten Freunde? Nun, von links nach rechts sehen wir als ersten einen recht seriös wirkenden Herrn mittleren Alters mit brünetten Haaren und einer Hornbrille auf der Nase. Er hört auf den schönen, an Weihnachten erinnernden Vornamen Klaus; in der Schulzeit hat man ihn, weil er damals noch eher zart gebaut war, ursprünglich Klausi und, da er diese Koseform nicht sehr gerne hörte, später Johnny gerufen. Ihn hat es als Arzt in den äußersten Westen Österreichs, sprich: nach Vorarlberg, verschlagen.
    Der untersetzte Herr in der Mitte des Bildes mit eher dunklen Haaren und bereits bedenklich schief sitzender Krawatte wirkt, zumindest zur Zeit, nicht mehr ganz so seriös. Er heißt eigentlich Felix, wurde jedoch aus unerfindlichen Gründen stets „die Henne“ gerufen, wogegen er in seiner unermeßlichen Langmut nie ernstlich rebelliert hat; es hätte wohl auch nichts genutzt. Er hatte als Jurist neuerdings bei der EU in Brüssel ein offenbar interessantes und lohnendes Tätigkeitsgebiet gefunden.
    Und der Dritte im Bunde beziehungsweise im Bilde? Nun, der sieht noch weniger seriös aus: er nennt ziemlich lange und fast blonde Haare sein eigen und dazu einen ebensolchen Bart, hat ein im Vergleich zu seinen beiden Freunden eher gspaßiges Gschau oder, um es etwas vornehmer auszudrücken, ausgesprochen schelmisch funkelnde Äuglein und überhaupt einen eher schalkhaft wirkenden Gesichtsausdruck und trägt natürlich gar keine Krawatte. Er heißt Christian, wurde aber, vermutlich wegen besagten leicht schalkhaften Gesichtsausdrucks, den er nämlich immer schon hatte, in seiner Schulzeit allgemein Giggerle genannt; erst in der Oberstufe, und auch da nur innerhalb seiner eigenen Klasse, setzte sich, ausgehend von irgendeiner vorlauten Bemerkung, die er einmal während der Griechischstunde gemacht hatte, der Spitzname Titinos durch. Wie vernünftige Lehrer inzwischen wissen, sind vorlaute Bemerkungen von Schülern meist ein Zeichen besonderen Interesses, und so hat Christian alias Giggerle alias Titinos nach der Matura auch tatsächlich Latein und Griechisch studiert und dazu später auch noch Englisch. Er ist folglich Gymnasiallehrer geworden und hat bis vor kurzem an eben diesem Stiftsgymnasium Melk unterrichtet.

    Samstag, 1. Juni 1996, Nacht

    1. Teil

    Wenn jemand eine Reise tut,
    so kann er was verzählen
    (MATTHIAS CLAUDIUS)

    Diese drei, wie gesagt, mehr oder weniger würdigen Herren eilen also nicht wie die anderen frohgemut und angeregt plaudernd ihrem Nachtlager zu, sondern bleiben an der Stiftspforte zögernd stehen, werfen sich ein Weilchen gegenseitig fragende Blicke zu, ohne daß ein Wort gewechselt würde; dann macht ein jeder kurz „Hm!“, und wie auf Kommando, wie von irgendeiner geheimen Macht getrieben, setzen sie sich, gewissermaßen vollautomatisch, gleichzeitig in Bewegung und schreiten gemeinsam zielstrebig auf eine der Stiftspforte gegenüberliegende Mauer zu. Hinter dieser Mauer wissen sie den ausgedehnten, herrlichen barocken Stiftspark, in dem sie während ihrer Schulzeit in ähnlich lauen Nächten wie der heutigen oftmals zwar verbotenerweise, aber vollkommen ungestört, stundenlang über Gott und die Welt diskutiert haben; nur einmal sind sie von einem der Patres und noch jemandem gestört worden; aber das ist eine andere Geschichte. Und wie gelangten sie damals trotz geschlossener Tore immer in den Park hinein? Nun ja, neugierig, wie sie eben waren, hatten sie in der Umfassungsmauer eine Stelle entdeckt, an der es einem gelenkigen Bürschchen ein Leichtes ist, sie zu überwinden. Die Frage ist nur: sind sie heutzutage immer noch so gelenkig ...? Um es kurz zu machen: sie sind es. Damit steht also einer Neuauflage besagter Diskussionen über Gott und die Welt eigentlich nichts mehr im Wege.
    Zunächst hat es zwar gar nicht den Anschein, als würde es dazu kommen, sondern sie schlendern
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