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Geisterschiff Vallona

Titel: Geisterschiff Vallona
Autoren: dtv
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hatte sich immer ausgemalt, dass die Luft in der Kirche ein Meer war, dessen Oberfläche auf Höhe der Empore lag. Und
     die Töne der Orgel waren die Wellen, die über das Luftmeer rollten.
    Sogar Schiffe gab es auf diesem Meer: vier prächtige Votivschiffe, die an dünnen Ketten von der Decke hingen. Es waren Miniaturen
     echter Schiffe, die vor Krabbsjögrund in Seenot geraten waren. Sie waren erbaut und in die Kirche gehängt worden, um Gott
     dafür zu danken, dass die Seeleute überlebt hatten.
    Das kleinste der Schiffe war ungefähr einen Meter lang, das größte fast zwei. Dieses gefiel Karl am besten. Es war eine Brigg,
     ein zweimastiges Segelschiff mit allem, was dazugehörte, eine perfekte Kopie der Anastasia von Krabbsjögrund.
    »Ich muss noch ein wenig spielen«, sagte Großvater. »Es kann ein paar Tage dauern, eheich die Orgelpfeifen das nächste Mal durchpusten kann. Willst du schon mal nach Hause gehen?«
    Karl schüttelte den Kopf. Es war schön, einfach nur dazusitzen und die Beine von der Empore baumeln zu lassen, während die
     Orgelmusik in den Ohren toste. Außerdem konnte er von der Empore aus die Votivschiffe von oben betrachten und sich vorstellen,
     wie sie auf den Wellen der Musik dahinsegelten.
    Und obwohl die Orgel direkt hinter ihm derart laut tönte, schlief Karl fast ein, während er so dasaß. Er träumte sich weg,
     träumte von in Not geratenen Seeleuten, die heldenhaft vor ihrem dunklen, nassen Grab gerettet wurden.
    Da sah er mit einem Mal aus den Augenwinkeln, wie sich unten in der Kirche etwas bewegte. Links vom Altar schwang eine Tür
     immer wieder auf und zu, als würde der Windzug mit ihr spielen. Kein Mensch war zu sehen. Karl wusste, dass sich dahinter
     die Sakristei befand, und dorthin durfte niemand gehen. Abermals glitt die Tür ein paar Zentimeter auf und schloss sich wieder.
     Fast als wollte sie Karl ein Zeichen geben, ihn zu sich locken.
    Karl drehte sich nach seinem Großvater um, aber der war ganz in seine Musik versunken.
    Vorsichtig stand Karl auf und schlich sich die Treppe hinunter. Ein warmes Licht drang aus der Sakristei, und als er näher
     kam, sprang die Tür vor ihm sperrangelweit auf.
    »Hallo?«, rief er leise, während er sich suchend umschaute.
    Niemand antwortete. Karl machte einen Schritt nach vorn und warf einen Blick in die Sakristei. Dort drinnen, an der Decke,
     hing ein Votivschiff, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Es war kein Vergleich zu den anderen, die in der Kirche hingen.
     Es war ganz einfach fantastisch!
     
    Karl schloss die Tür hinter sich, damit ihn niemand sehen konnte. Dann stellte er sich unter das Modell und schaute staunend
     nach oben. Es war nicht etwa so, dass das Votivschiff in der Sakristei aus kostbareren Materialien war als die anderen. Es
     hatte keine goldenen Verzierungen und es waren auch nirgends Edelsteine eingelassen. Die Farbe war rissig und das Holz keineswegs
     so glänzend lackiert wie das der anderen. Aber irgendetwas machte dieses Schiff besonders und es dauerte eine ganze Weile,
     bis Karl dahinterkam, was es war.
    Dieses Votivschiff wirkte auf ganz eigentümlicheArt realistisch. Die Maserung seines Holzes war so dicht, dass es fast so aussah, als wäre es aus echten Stämmen gebaut, wenngleich
     in Miniaturausgabe. Rund um den Anker und andere Eisenteile hatte die weiße Farbe rote Flecken angenommen, wie von Rost. Und
     alle Leinen und Trosse waren richtig geschlagen, aus Schnüren so dünn, dass man sie kaum erkennen konnte.
    Karl konnte sich gar nicht sattsehen. Noch das kleinste Detail wirkte wie auf einem echten Schiff, wie von Zauberhand verkleinert.
    Vallona,
stand auf einem Holzschild vorne am Bug.
    Das Schild war aus einem anderen Holz gefertigt. Der Name war erst eingeschnitzt, dann gebrannt, geteert und schließlich mit
     einem Schutzlack überzogen worden.
    Aber so, wie Karl unter dem Schiff stand, konnte er nur die Unterseite richtig betrachten. Hätte die Vallona doch nur draußen
     in der Kirche gehangen, dann hätte er sie von oben bewundern können   … Da entdeckte er den Schreibtischstuhl des Pastors.
    Als Karl nach dem Stuhl griff, fiel sein Blick auf ein gerahmtes Foto, das auf dem Schreibtisch stand. Es zeigte eine Gruppe
     lachender und winkender Menschen, die sich am Strand aufgestellthatte. Ihre nassen Kleider klebten ihnen am Körper. »Nach dem Untergang der Vallona« war auf dem Rahmen zu lesen. Vallona.
     Das Votivschiff!
    Die Schwarz-Weiß-Fotografie war schon alt,
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