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Geisterlicht: Roman (German Edition)

Geisterlicht: Roman (German Edition)

Titel: Geisterlicht: Roman (German Edition)
Autoren: Elaine Winter
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konnte sie es kaum noch erwarten, endlich ihre Schwester zu sehen. Es war zu spät, ihre Mutter zu umarmen, aber sie wollte wenigstens Dawn in die Arme schließen. »Komm schon nach Hause, Dawn«, flüsterte sie. Zu ihrem eigenen Erstaunen war es ihr schon oft gelungen, eine Person herbeizuwünschen, also konnte sie es jetzt auch bei ihrer Schwester versuchen.
    Wahrscheinlich waren es immer merkwürdige Zufälle gewesen, doch mehr als einmal hatte beispielsweise Anja sie in genau dem Moment angerufen, in dem sie an sie gedacht hatte. Oder Anja war mit ihrem Auto um die Ecke gebogen, wenn Fiona sich nur intensiv genug gewünscht hatte, nicht länger auf sie warten zu müssen. Auch bei anderen Menschen war ihr Ähnliches gelungen. Verspätete Handwerker klingelten nach wenigen Minuten an ihrer Wohnungstür, wenn sie sie »herbeidachte«. Es funktionierte sogar bei ihrem Vater.
    Entschlossen kniff Fiona also die Lider zu und dachte mit aller Kraft an Dawn. Es gab nur ein Problem: Sie wusste ja nicht, wie ihre Schwester heute aussah, und konnte sich deshalb auch nicht vor ihrem geistigen Auge vorstellen, dass sie die Tür öffnete und das Zimmer betrat.
    Fiona besaß nur ein einziges Foto von ihrer Schwester. Es war entstanden, kurz bevor ihre Mutter mit Dawn nach Schottland gezogen war. Auf dem Bild war Noreen mit ihren beiden Töchtern zu sehen. Damals war Fiona vier Jahre alt gewesen und Dawn zwei. Wieder machte sich Wehmut in Fiona breit, doch sie unterdrückte sie, und konzentrierte sich erneut darauf, Dawn in Gedanken eine Nachricht zu senden. Da sie keine andere Möglichkeit hatte, stellte sie sich das kleine Mädchen mit den roten Locken und den braunen Augen vor, das sie von dem Foto und einer verschwommenen Erinnerung her kannte. Doch ganz unvermittelt schob sich plötzlich das Gesicht des Mannes aus ihren Träumen vor das Bild der kleinen Dawn. Erschrocken riss Fiona die Augen auf. Jetzt sah sie ihn auch schon tagsüber! Das war ihr noch nie passiert.
    Doch dann musste sie leise lachen. Wenn es ihr schon nicht gelang, ihre Schwester herbeizuwünschen, konnte sie es ja bei dem Unbekannten mit den blauen Augen versuchen. Es war schließlich nur ein Spiel, nichts, an das sie wirklich glaubte. Träumerisch schloss sie die Augen und stellte sich den Fremden vor. Die markanten Züge, die widerspenstigen schwarzen Haare, die tiefblauen Augen und das Grübchen in der rechten Wange. »Komm zu mir«, flüsterte sie dabei selbstvergessen vor sich hin.
    Mit einem Seufzer ging sie schließlich wieder in die Küche hinunter, setzte sich an den Tisch und wartete – worauf wusste sie selbst nicht so recht. Nichts geschah. Und dann, sie wollte gerade aufstehen, um Wasser für frischen Tee aufzusetzen, klopfte es an die Haustür. Erstaunt hielt Fiona inne. War das Dawn? Aber ihre Schwester hatte doch bestimmt einen zweiten Schlüssel.
    Fiona lief zur Haustür und riss sie schwungvoll auf. Als sie sah, wer da vor ihr stand, erstarrte sie und schnappte nach Luft. Sie öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus und hielt sich am Türrahmen fest, weil ihre Knie plötzlich nachzugeben drohten.
    »Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Mann vor der Tür und lächelte freundlich, so dass das Grübchen in seiner rechten Wange sichtbar wurde. »Ich wollte eigentlich zu Dawn. Dawn Abercrombie.«
    »Das ist … meine Schwester«, stotterte Fiona. »Sie ist im Augenblick nicht da.«
    »Hm.« Unschlüssig trat der Fremde einen Schritt zurück und musterte sie skeptisch. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Sie sehen blass aus. Geht es Ihnen nicht gut?«
    »Doch, doch. Mit mir ist alles in Ordnung«, beteuerte Fiona, obwohl ihr Herz viel zu schnell schlug, während sie vollkommen überwältigt den Mann anschaute, der genau vor ihr stand. Sie hatte ihn schon oft gesehen, war ihm aber noch nie begegnet. Es war der Fremde aus ihren Träumen.
    Dawn beugte sich vor und schaute der uralten Frau, die wie ein mageres Vögelchen in seinem Nest in ihrem tiefen Sessel hockte, aufmerksam ins Gesicht. Es war von Hunderten von Falten durchzogen, doch die Augen unter den grauen Brauen funkelten wie bei einem jungen Mädchen.
    »Catriona Abercrombie«, krächzte die Alte und legte ihren langen krummen Zeigefinger nachdenklich auf ihr Kinn. »Ich kenne diesen Namen. In meiner Jugend erzählte man sich eine Geschichte über sie. Eine uralte Geschichte.«
    »Ach ja?« Aufgeregt rutschte Dawn an die vordere Kante ihres eigenen Sessels, bis sie fast auf den
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