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Geisterbahn

Geisterbahn

Titel: Geisterbahn
Autoren: Dean R. Koontz
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Seine Freizeit verbrachte er lieber mit seinen Freunden als mit seiner Familie, und so erhielt Ellen zu wenig von seiner Liebe und von seinem feinen Humor, als daß ein Ausgleich für die unzähligen schrecklichen Stunden geschaffen worden wäre, die sie stoisch unter der strengen, nüchternen, erstickenden Herrschaft ihrer Mutter verbrachte.
    Jahrelang hatte Ellen von dem Tag geträumt, da sie ihr Elternhaus verlassen würde; sie hatte diesem Tag genauso eifrig entgegengefiebert wie ein Häftling der Entlassung aus einer Gefängniszelle. Doch nun, da sie auf eigenen Füßen stand, da sie seit über einem Jahr dem eisernen Griff ihrer Mutter entkommen war, sah ihre Zukunft, so unglaublich es auch anmutete, schlimmer aus denn je zuvor. Viel schlimmer.
    Sie hörte ein Klopfen am Fliegengitter hinter der Eckbank.
    Ellen fuhr herum und schaute erschrocken hoch. Einen Augenblick lang konnte sie nichts sehen. Da draußen war nur Dunkelheit.
    Poch-poch-poch.
    »Wer ist da?« fragte sie. Ihre Stimme war so dünn wie Seidenpapier, und ihr Herz schlug plötzlich ganz schnell.
    Dann breitete ein Blitz sich über den Himmel aus, ein Filigranmuster feuriger Adern und Arterien. Im flackernden Puls des Lichts flatterten große weiße Motten gegen das Fliegengitter.
    »Gott im Himmel«, sagte sie leise. »Nur Motten.«
    Sie erschauerte, wandte sich von den hektischen Insekten ab und nippte an ihrem Bourbon.
    Sie konnte mit dieser Anspannung nicht leben. Nicht mehr lange jedenfalls. Sie konnte nicht in ständiger Angst leben. Sie mußte bald irgend etwas unternehmen.
    Das Baby töten.
    Inder Wiege schrie das Baby erneut auf: ein kurzes, scharfes Geräusch, fast wie das Bellen eines Hundes.
    Ein ferner Donnerschlag schien dem Kind zu antworten; das Poltern am Himmel übertönte kurz das unaufhörliche Rauschen des Windes und hallte in den Metallwänden des Wohnwagens wider.
    Die Motten schlugen wieder gegen das Fliegengitter.
    Ellen trank schnell den Rest des Bourbons aus und schüttete zwei weitere Fingerbreit in das Glas.
    Sie konnte kaum glauben, daß sie an diesem schäbigen Ort gelandet war, in solchem Elend und Schmerz; es kam ihr wie ein Fiebertraum vor. Erst vor vierzehn Monaten hatte sie mit großen Erwartungen ein neues Leben angefangen, mit - wie sich später herausgestellt hatte - hoffnungslos naivem Optimismus. Ihre Welt war so schnell und so vollständig zu einem Trümmerhaufen zusammengebrochen, daß Ellen immer noch wie betäubt war.
    Sechs Wochen vor ihrem neunzehnten Geburtstag hatte sie ihr Elternhaus verlassen. Sie hatte sich mitten in der Nacht davongeschlichen, vorher nichts von ihrem Aufbruch verlauten lassen, unfähig, ihrer Mutter ins Gesicht zu sehen. Sie hatte Gina eine kurze, verbitterte Nachricht auf den Tisch gelegt und war dann mit dem Mann durchgebrannt, den sie liebte.
    Jedes unerfahrene Kleinstadtmädchen, das darauf brannte, der Langeweile oder den tyrannischen Eltern zu entkommen, wäre auf einen Mann wie Conrad Straker geflogen. Er war unbestreitbar stattlich. Sein glattes, pechschwarzes Haar war dicht und glänzend. Seine Gesichtszüge waren ziemlich aristokratisch: hohe Wangenknochen, eine Patriziernase, ein starkes Kinn. Er hatte betörend blaue Augen, ein Gasflammenblau. Er war groß, schlank und bewegte sich mit der Anmut eines Tänzers.
    Aber es war nicht einmal Conrads Aussehen gewesen, das sie am tiefsten beeindruckt hatte. Er hatte sie mit seinem Stil, seinem Charme für sich eingenommen. Er konnte gut reden, war klug und verstand sich darauf, die übertriebenste Schmeichelei untertrieben und aufrichtig klingen zu lassen.
    Es war ihr wild romantisch vorgekommen, mit einem stattlichen Ausrufer vom Jahrmarkt durchzubrennen. Sie würden durch das ganze Land reisen, und in einem Jahr hätte sie mehr von der Welt gesehen als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Es würde keine Langeweile mehr geben. Jeder Tag wäre mit Aufregung, Farbe, Musik und Lichtern erfüllt. Und die Welt des Rummels, die sich so stark von der ihrer Kleinstadt im ländlichen Illinois unterschied, wurde auch nicht von einer langen, komplizierten und frustrierenden Liste von Regeln bestimmt.
    Sie und Conrad heirateten in bester Jahrmarkt-Tradition. Die Zeremonie bestand aus einer Fahrt auf dem Karussell nach Geschäftsschluß, während andere Budenbesitzer als Zeugen zusahen. In den Augen aller wahrer Jahrmarktsleute war ihre Ehe damit so bindend und heilig, als wäre sie von einem Geistlichen mit der entsprechenden
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