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Geisterbahn

Geisterbahn

Titel: Geisterbahn
Autoren: Dean R. Koontz
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nur viel zu jung, um sich mit der trostlosen Zukunft abzufinden, die nun vor ihr zu liegen schien; sie war auch zu hübsch und temperamentvoll, um sich in ein Leben der nie nachlassenden Qual und niederdrückenden Verantwortung zu fügen.
    Sie war eine schlanke, wohlgeformte Kindfrau, ein Schmetterling, der nie die Gelegenheit erhalten hatte, seine Flügel auszuprobieren. Ihr Haar war dunkelbraun, fast schwarz, genau wie ihre großen Augen; und auf ihren Wangen lag eine natürliche rosige Färbung, die zu ihrer olivbraunen Haut paßte. Bevor sie Conrad Straker geheiratet hatte, war sie Ellen Teresa Marie Giavenetto gewesen, Tochter eines stattlichen italo-amerikanischen Vaters und einer italoamerikanischen Mutter mit einem Madonnengesicht. Die mediterrane Schönheit war nicht die einzige Eigenschaft, die Ellens Herkunft enthüllte; sie hatte auch ein Talent, an kleinen Dingen große Freude zu finden, ging leicht aus sich heraus, lächelte gern und oft -alles Verhaltensweisen, die man den Italienern nachsagt. Sie war eine Frau, die für ein unbeschwertes Leben bestimmt war, für Partys und ausgelassene Tänze. Doch in den ersten zwanzig Jahren ihres Lebens hatte sie nicht sehr viel Grund zum Lachen gehabt.
    Ihre Kindheit war grimmig gewesen.
    Das Erwachsenwerden eine schwere Prüfung.
    Joseph Giavenetto, ihr Vater, war zwar ein freundlicher, gutherziger Mann gewesen, aber zu nachgiebig. Er war nicht der Herr in seinem Haus und hatte nicht viel zu sagen, wenn es um die Erziehung seiner Tochter ging.
    Ellen war vom sanften Humor und der stillen Liebe ihres Vaters bei weitem nicht so oft getröstet worden, wie sie dem glühenden religiösen Eifer ihrer Mutter ausgesetzt gewesen war.
    Gina hatte das Sagen im Haus der Giavenettos, und ihr gegenüber mußte Ellen sich für jede Unredlichkeit verantworten, ob sie nun echt oder nur eingebildet war. Es gab eine endlose Liste von Regeln, wie Ellen sich zu verhalten hatte, und Gina ließ keinen Zweifel daran, daß sie jede einzelne dieser Regeln strikt durchsetzen würde. Sie wollte ihre Tochter unbedingt zu einer moralischen, prüden und gottesfürchtigen Frau heranwachsen sehen.
    Gina war schon immer religiös gewesen, doch nach dem Tod ihres einzigen Sohnes wurde sie geradezu fanatisch fromm. Anthony, Ellens Bruder, war im Alter von nur sieben Jahren an Krebs gestorben. Ellen war damals erst vier, noch zu jung, um zu verstehen, was mit ihrem Bruder passiert war, aber alt genug, um seinen erschreckend schnellen Verfall mitzubekommen. Für die Mutter war diese Tragödie wie ein Gottesurteil. Sie hatte den Eindruck, daß sie Gott aus irgendeinem Grund mißfallen und der Herr ihren kleinen Jungen zu sich geholt hatte, um sie zu bestrafen.
    Sie ging nun jeden Morgen statt nur sonntags zur Messe und schleppte ihre kleine Tochter mit sich. Jeden Tag zündete sie eine Kerze für Anthonys Seele an, ohne es auch nur einmal zu vergessen. Zu Hause las sie die Bibel von Anfang bis Ende, immer und immer wieder. Oftmals zwang sie Ellen, still dazusitzen und sich stundenlang die Heilige Schrift anzuhören, obwohl ihre Tochter damals noch nicht alt genug war, die Gleichnisse zu verstehen.
    Gina erzählte schreckliche Geschichten über die Hölle: Wie unwirtlich es dort war, welch grausige Qualen die Sünder dort unten erwartete, wie schnell ein ungezogenes Kind an diesem nach Pech und Schwefel stinkenden Ort enden konnte. Des Nachts wurde die junge Ellen von entsetzlichen, blutigen Alpträumen aus dem Schlaf gerissen, die auf den düsteren Geschichten ihrer Mutter über Feuer und Verdammnis beruhten. Und während Gina zunehmend religiöser wurde, fügte sie der Liste, nach der Ellen zu leben hatte, immer neue Regeln hinzu; der winzigste Verstoß war, Gina zufolge, ein weiterer Schritt auf der Straße zur Hölle.
    Joseph, der schon früh in ihrer Ehe alle Autorität an seine Frau abgetreten hatte, übte selbst in normalen Zeiten kaum Einfluß auf Gina aus. Als sie sich in ihre seltsame Welt des religiösen Fanatismus zurückzog, befand sie sich so weit außerhalb seiner Reichweite, daß er nicht einmal mehr versuchte, Einfluß auf ihre Entscheidungen zu nehmen. Verwirrt von den Veränderungen ihrer Persönlichkeit und unfähig, mit der neuen Frau zurechtzukommen, die sie geworden war, verbrachte Joseph immer weniger Zeit zu Hause. Er hatte eine Schneiderei - kein äußerst einträgliches Geschäft, aber ein gleichmäßig zuverlässiges -, und er fing nun an, ungewöhnlich lange zu arbeiten.
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