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Gehetzte Uhrmacher

Titel: Gehetzte Uhrmacher
Autoren: J Deaver
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sich neben der Uhr gesammelt hatte und gefroren war. Er beugte sich vor und erschrak noch mehr, als ihm klar wurde, wie das Blut dorthin gelangt war. Auf den Planken des Piers zeichneten sich blutige Kratzspuren ab, als habe jemand mit zerschnittenen Fingern oder Handgelenken sich verzweifelt festklammern wollen, um nicht in die tosenden Fluten des Hudson zu stürzen.
    Er wagte sich vorsichtig bis zur Kante vor und sah nach unten. In dem aufgewühlten Wasser trieb niemand. Das überraschte ihn nicht; falls seine Vermutung zutraf, bedeutete das gefrorene Blut, dass der arme Teufel vor geraumer Zeit hier gewesen war, und sofern man ihn nicht gerettet hatte, befand seine Leiche sich mittlerweile irgendwo zwischen hier und Liberty Island.
    Der Mann wich zurück, griff nach seinem Mobiltelefon und zog sich mit den Zähnen einen Handschuh aus. Nach einem letzten Blick auf die große Uhr eilte er zurück zu seiner Hütte und wählte dabei mit einem dicken, zitternden Finger die Nummer der Polizei.

    Das Vorher und das Nachher.
    Seit jenem Morgen im September, den Explosionen, den gewaltigen Rauchfahnen, den verschwundenen Gebäuden war die Stadt eine andere.
    Es ließ sich nicht leugnen. Man konnte die Robustheit der New Yorker anführen, ihre innere Stärke, den festen Willen, wieder zur Normalität zurückzukehren, und das alles war zutreffend. Doch wenn eine Maschine beim Anflug auf den Flughafen La Guardia etwas niedriger als üblich hereinzukommen schien, hielten die Leute immer noch inne. Wenn irgendwo eine herrenlose Einkaufstüte stand, wechselten sie in großem Bogen die Straßenseite. Niemand war überrascht, Soldaten oder Polizisten in dunklen Uniformen zu sehen, bewaffnet mit schwarzen, militärisch anmutenden Sturmgewehren.
    Die Thanksgiving-Parade war ohne Zwischenfall verlaufen. Nun weihnachtete es an allen Ecken und Enden, und überall drängten sich Menschenmassen. Aber die festliche Stimmung wurde überschattet, als würde ein Bild sich in dem weihnachtlich geschmückten Schaufenster eines Kaufhauses spiegeln, ein Bild von den Türmen, die es nicht mehr gab, und von den Menschen, die ihr Leben hatten lassen müssen. Und die große Frage lautete natürlich: Was würde als Nächstes geschehen?
    Für Lincoln Rhyme gab es ein ganz persönliches Vorher und Nachher, und er verstand das Prinzip nur zu gut. Es gab eine Zeit, in der er gehen und sich frei bewegen konnte, und dann kam die Zeit, in der das nicht mehr möglich war. Im einen Moment war er kerngesund und untersuchte einen Tatort, und im nächsten zertrümmerte ein herabstürzender Balken ihm die Wirbelsäule und machte ihn zu einem C4-Patienten, der von den Schultern abwärts nahezu vollständig gelähmt war.
    Vorher und nachher ...
    Es gibt Momente, die dich auf ewig verändern.
    Lincoln Rhyme war jedoch davon überzeugt, dass diese Ereignisse noch zusätzlich an Wirkung gewannen, wenn man sie allzu sehr hochstilisierte. Und dann hatte man endgültig verloren.
    Daran musste Rhyme denken, als er an diesem frühen kalten Dienstagmorgen einer Radiosprecherin lauschte, die mit stoischer Ruhe von einem für den übernächsten Tag geplanten Umzug berichtete,
dem einige Festakte und Treffen hochrangiger Regierungsbeamter folgen würden. Das alles hätte eigentlich in der Hauptstadt stattfinden müssen, aber die vorherrschende Meinung war nun einmal, dass New York speziellen Zuspruch benötige. Daher würden sowohl Schaulustige als auch Demonstranten die Straßen verstopfen und der sehr auf Sicherheit bedachten Polizei rund um die Wall Street das Leben schwer machen. Wie die Politik, so der Sport: Play-offs, die ursprünglich in New Jersey abgehalten werden sollten, würden nun im Madison Square Garden ausgetragen werden – was aus irgendeinem Grund als besonders patriotisch galt. Rhyme fragte sich zynisch, ob wohl auch der nächste Boston Marathon nach New York City verlegt werden würde.
    Vorher und nachher ...
    Rhyme war zu dem Schluss gelangt, dass er selbst sich im Nachher nicht sonderlich geändert hatte. Seine körperliche Verfassung – seine Skyline, wenn man so wollte – war anders. Davon abgesehen war er aber im Wesentlichen noch dieselbe Person wie im Vorher: ein Polizist und Wissenschaftler, ungeduldig, launisch (okay, mitunter penetrant), schonungslos und nicht gewillt, Inkompetenz und Faulheit zu akzeptieren. Er spielte nicht die Krüppelkarte aus, jammerte nicht und ritt nicht auf seinem Zustand herum (wenngleich Gott all jenen
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